Die Beschützerin
sein. Jeden Moment würde er mich erkennen. Mich fragen, was ich hier tat. Ich konnte sein Gesicht sehen, es wirkte maskenhaft, sein Blick war auf den Boden gerichtet. Ich wandte mich ab, versteckt unter meiner Jacke. Er ging wenige Meter neben mir vorbei. Nachdem er hinter der StraÃenbiegung verschwunden war, löste ich mich langsam aus der Erstarrung.
Was war los mit ihm? Was mochte zwischen ihm und Vanessa Ott vorgefallen sein? Ich spürte den Schlüssel zu Gregors Wohnung in meiner Hosentasche. Ich musste nachsehen. Musste es einfach wissen. Ich würde es ertragen, was es auch war: ein zerwühltes Bett, im Kopfkissen der Duft von Vanessa Otts teurem Parfüm, eine fremde Zahnbürste im Bad ⦠Doch sosehr die Wahrheit auch wehtun würde, sie schien mir in diesem Moment leichter zu ertragen als nichts zu wissen.
Ich lief zu seiner Haustür, schloss auf und ging hinein. Das Erste, was mir auffiel, war ein unangenehmer Geruch. Es roch verbrannt. In der Wohnung war es dunkel. Ich wollte kein Licht machen, aus Angst, jemand könne es von drauÃen sehen. In Gregors Schlüsselschublade lag eine kleine Taschenlampe für Notfälle. Ich nahm sie heraus und knipste sie an. Der Gestank kam aus der Küche. Ich ging hinein und leuchtete umher. In einer Pfanne auf dem Herd lag etwas Schwarzes, das sich bei näherem Hinsehen als zwei verbrannte Stücke Fleisch herausstellte. In einem Topf schwammen verkochte Nudeln in milchigem Wasser. Es musste übergekocht sein und hatte sich in das Ceranfeld eingebrannt. Ich richtete den Lichtstrahl auf den Esstisch. Zwei Teller standen dort, eine schlanke weiÃe Kerze, Weinkelche. Das Tischtuch war nass, auf dem Boden lagen Scherben, mitten darin eine Rose, deren Blütenblätter zermatscht an den Holzdielen klebten. Ein Essen zu zweit, zu dem es nicht gekommen war? Aber warum? Waren sie gleich im Bett gelandet, hatten die Steaks in der Pfanne vergessen?
Ich ging ins Schlafzimmer. Gregor machte sein Bett nie. Die Zudecke war zerwühlt, das Fenster stand weit offen. Da Gregor im Erdgeschoss wohnte, ein riskantes Versehen. Jeder konnte hier hereinklettern. AuÃerdem war der Boden nass vom Regen. Ich schloss das Fenster, beugte mich über das Kopfkissen und schnupperte. Es roch leicht nach Moschus. Nach Gregors Haarshampoo. Im Arbeitszimmer konnte ich nichts Auffälliges entdecken. Der Computer war ausgeschaltet. Auf dem Schreibtisch lag Gregors Ordner mit der Aufschrift »Rechnungen«. Ich klappte ihn auf. Zuoberst war die Kopie einer Rechnung über die Restaurierung der Art-déco-Intarsienmöbel abgeheftet. Sie war an Vanessa Ott in der CarmerstraÃe in Berlin-Charlottenburg adressiert, und Gregor hatte in seiner krakeligen Schrift »bezahlt 12.8.« darauf vermerkt. Die Rechnungssumme belief sich auf fast viertausend Euro.
Als Letztes betrat ich die Werkstatt. Zuerst wirkte alles wie immer. Die abgestellten Möbel warfen scharfkantige Schatten, und ich verdeckte den Lichtstrahl mit meiner Hand. Von der StraÃe aus konnte jeder hineinsehen. Mitten im Raum stand der groÃe, ovale Art-déco-Tisch. Die Intarsien in zarten Perlmutttönen schimmerten wie neu unter einer ebenmäÃigen Lackschicht. Doch dann sah ich es. Ein tiefer, hässlicher Kratzer zog sich quer über das dunkle Holz der Tischplatte.
Ich lief bis zum Felsenkeller, stellte mir vor, wie Gregor dort saà und sich betrank, auÃer sich vor Wut, dass Vanessa seine mühsame Arbeit zerstört hatte. Doch die Kneipe war fast leer, und die Wirtin wischte mit einem Lappen den Tresen trocken. Wo war er? Als ich zurückkam, lag seine Wohnung noch immer im Dunkeln. Ich stieg ins Auto. Was nun? Ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft. Und wenn ich es riskierte, nach Hause zu fahren? Der Gedanke an meine Wohnung lieà mich frösteln. Aber ich konnte die Augen kaum noch aufhalten. Ich musste ein paar Stunden schlafen. Ich startete den Motor.
In meinem Briefkasten lag eine Einladung zu Bennis Einschulungsfeier. Samstag in zwei Wochen. Die Karte kam mir vor wie ein Relikt aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der Menschen ungestört ihren Alltag weiterlebten und zu der ich nicht mehr gehörte.
Im Hausflur war es absolut still. Das Haus wirkte leer, kalt und abweisend. Ich stieg die Treppe hoch zu meiner Wohnung und wollte aufschlieÃen. Der Schlüssel lieà sich nicht drehen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Die Tür war
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