Die Beschützerin
Körperlos. Der Laut traf mich ins Mark. Er war, selbst in der Verfälschung der digitalen Aufnahme, der reine, verzweifelte Schmerz.
»Ich glaube, du schläfst bei mir drüben«, sagte Sebastian.
13
Die Nacht erschien mir endlos. Sebastian hatte mir sein Schlafzimmer überlassen und war mit einer Decke aufs Sofa umgezogen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein, doch an Einschlafen war nicht zu denken. Irgendwann hörte ich Benni nebenan im Traum sprechen. Als es leise klopfte und Sebastian die Tür einen Spalt öffnete, hatte ich das Gefühl, keine Minute geschlafen zu haben. War es mitten in der Nacht oder schon Morgen?
»Na? Wie geht es? Ich sollte dich um sieben wecken«, sagte er.
Mit einem Ruck setzte ich mich auf und, als öffnete sich ein Schleusentor, füllte sich mein Kopf mit Gedanken an Vanessa Ott. Sebastian versuchte, mich zu einem gemeinsamen Frühstück zu überreden, und Benni bot sich sogar an, frische Brötchen zu holen, doch ich lehnte dankend ab. Schon bei dem Gedanken an Essen rebellierte mein Magen. Ich kochte mir in meiner Küche schnell einen Kaffee, suchte mir etwas zum Anziehen heraus und fuhr zum Sender.
Auf dem Weg zu meinem Büro ging ich bei Michaela vorbei. Wir begrüÃten uns kühl. Ich fragte, ob etwas Dringendes anläge, sie verneinte und wandte sich ihrem Bildschirm zu. Wenigstens Evelyn schenkte mir ein zaghaftes Lächeln und wollte wissen, ob es mir wieder besser ginge.
Ich schaltete meinen Computer an, gab das neue Passwort ein, das nun nicht einmal mehr Michaela kannte, und checkte meine E-Mails. Fast alle bezogen sich auf den Smiling Kids Day. Am Vortag hatte von Hirten einen Statusbericht verlangt, in zwei weiteren Mails wurde seine Wortwahl immer unfreundlicher, er drängte mich zu antworten. Offenbar hatte ihm niemand mitgeteilt, dass ich mich krankgemeldet hatte. Auch Mark Winter schien das nicht zu wissen, er hatte um einen Anruf gebeten, in der zweiten Nachricht mit Lesebestätigung. Sollten sie warten, bis sie schwarz wurden. Es war mir egal. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf. Was wollte Vanessa Ott von mir? Und was wollte sie von Gregor?
Ich rief die Webseite von Auktiona, dem Online-Versteigerungshaus, auf. Unter der Rubrik »Jobs« wurde eine Buchhalterin gesucht, von einer Stellenausschreibung für einen Möbelexperten fand ich keine Spur. Ich rief die Zentrale an und lieà mich mit der Personalabteilung verbinden. In den letzten Jahren hatte ich zum Glück so viel von Gregors Arbeit mitbekommen, dass es mir nicht schwerfiel, mich als Expertin für Antikmöbel auszugeben. Ich fragte nach den Chancen, mich für das internationale Team von Auktiona zu bewerben, doch die Mitarbeiterin blockte mich ab. Das Team sei seit Langem komplett, bestückt mit erfahrenen Leuten. Da das Auftragsvolumen zurückgehe, würden sie sicher niemand Neues dazuholen. Nein, auch in absehbarer Zukunft nicht. Ich bedankte mich höflich und legte auf. Judo und Antikmöbel. Dank der Recherchemöglichkeiten im Netz und der Erfahrung aus ihrem eigenen Job war es Vanessa Ott sicher leichtgefallen, sich als Kennerin auszugeben. Sie hatte Gregor belogen, genau wie damals Christian Hunzicker.
Ich rief bei der Pforte an, hoffte Herrn Keipkes freundliche Stimme zu hören. Er war nicht im Dienst. Sein Kollege gab mir die Auskunft, dass Frau Ott nicht im Hause sei. Ich ging zum Büro der Unternehmensberater und lauschte. Alles still. Ich klopfte an und hörte Mark Winter: »Herein.«
Als ich die Tür öffnete, stand er auf und kam auf mich zu. »Frau Amelung! Ich hoffe, es ⦠es geht Ihnen gut?« Er stoppte mitten in der Bewegung, räusperte sich, wandte sich um und setzte sich wieder. Auch wenn er versucht hatte, seine Gefühle vor mir zu verbergen, hatte ich die Erleichterung in seinem Blick gesehen. Hatte er gedacht, mir sei etwas zugestoÃen? So wie Katharina Schilling?
»Ganz okay, danke.«
Auf dem Schreibtisch von Vanessa Ott lag ihr Dienstnotebook, ein elegantes Schreibset aus Leder und ein leerer Schreibblock mit aufgedrucktem Bloomsdale-Logo.
»Waren Sie gestern nicht da? Sie haben meine Mails nicht beantwortet.«
»Ich war krank.«
Er zögerte. »Ich bin froh, dass es Ihnen besser geht.«
»Froh? Wegen Ihrer Kollegin?«
Er schloss die Augen, einen Moment zu lang für einen Wimpernschlag. »Ja.
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