Die beste Lage: Roman (German Edition)
hatte sie, als sie sich hinauslehnte, bei dem Wind, der ihr den Duft des nassen Grases und der kleinen Feldblümchen ins Gesicht wehte, ein leichtes Frühlingsgefühl verspürt, während über die hohen blauen Berge, die sich in der Ferne verloren, eine ganze Flotte schneeweißer Wolken dahinsegelte. »Das gibt’s nicht mal in Nepal, aber echt«, seufzte sie erneut in dem menschenleeren Waggon, dieses Mal aber gerührt und plötzlich von jenem Gefühl des Friedens durchdrungen, das ein unerwartetes Schauspiel der Natur manchmal in uns auszulösen vermag. Und in diesem Zustand befand sie sich noch, als sie am Bahnhof von Potenza auf Riccardo Fusco traf.
Einfache Wege – schwierige Wege
Bis dahin hatte sie immer nur von ihm reden hören und ihn als das x-te weibliche Hirngespinst abgetan, doch da war er – der mächtige, der elementare, der umwerfende coup de foudre ! Womit sonst hätte man die Tatsache erklären sollen, dass Chatryn, sobald sie Riccardo erblickt hatte, sich vom Boden abgehoben fühlte, was ihr noch nie passiert war, was aber, wie sie gelesen hatte, den in die Mysterien von Eleusis Eingeweihten, den Priestern der Yaquí, den tungusischen Schamanen, den buddhistischen Yogis, den Tanzenden Derwischen und den christlichen Heiligen in ihrer Ekstase sehr wohl widerfahren war. Nur einer Wissenschaftlerin konnte so ein Gedanke kommen, und prompt fragte sich Chatryn, was wohl Mircea Eliade dazu gesagt hätte, der die Wege, die zu diesem Zustand führen – dem Zustand, in dem man das Gefühl hat, durch die Lüfte zu schweben –, in »einfache« und »schwierige« unterteilt, je nachdem, ob man ihn dadurch erreicht, dass man sich wie ein Junkie volldröhnt oder sich mittels Meditation betäubt. Aber kaum hatte Riccardo erfolgreich darauf bestanden, sie auch vom Gewicht ihres zweiten großen Koffers zu befreien – wir waren noch weit von der segensreichen Erfindung des Trolleys entfernt –, worauf sie sich, um nicht wie ein heliumgefüllter Ballon in die Luft zu schießen, an seinem Arm hatte festklammern müssen, hatte sie es auch schon selbst begriffen: Dies war der-einfachste-wenngleich-schwierigste-Weg-den-nur-Liebestrunkene-finden, so etwas wie ein Pfad zwischen den Wolken, den sie in jenen Monaten, den schönsten ihres Lebens, mit Riccardo gehen würde.
Man muss dazu sagen, dass sich der lukanische Frühling ihnen auch von seiner besten Seite präsentierte – ausnahmsweise herrschte nicht die übliche Lausekälte –, während sie durch die Wälder um Chiaromonte streiften, sie, wann immer möglich, nackt wie eine Waldnymphe, er glücklich, dass er über ihren Körper verfügen konnte. Oder während der Arbeit, wenn sie die Stimmen der Bauern auf Tonband aufnahmen, inmitten der Felder, die ansonsten ebenso menschenleer waren wie der ganze Rest, bevölkert nur von Mandelbäumen, Jasmin- und Weißdornsträuchern, Kirsch- und Pfirsichbäumen und Mohnblumen, dazu von Lavendel, Fenchel, Zwiebeln, Sauerampfer und Myrte – und natürlich auch von Salbei, Rosmarin und Ginster. Aus diesen Stimmen hörte Chatryn die ihrer Mutter heraus, die ihr jetzt merkwürdigerweise weniger irritierend erschien, was so weit ging, dass sie eines Tages etwas tat, was sie sich nie hätte vorstellen können: Sie pilgerte in das Dorf, in dem ihre Mutter, als sie noch Carmela hieß, barfüßig durch die Gässchen gelaufen war, und dachte mit Rührung an die Frau, die sie nunmehr in ein Pflegeheim verbannt wusste. Sie selbst dagegen fühlte sich plötzlich ganz anders, ruhiger. Gelassen , ja, das war es. Und das alles nur, weil sie Riccardo an ihrer Seite hatte. Ihr genügte es, ihm fest in die Augen zu blicken, seine Stimme zu hören, seinen Körper zu streicheln – nicht nur zu streicheln, genau genommen. Dabei war Riccardo nicht einmal so viel schöner oder so anders als die vielen, die sie bis jetzt zurückgewiesen hatte. Und was das Langweilig- und Berechenbarsein anbelangte, so konnte er die anderen sogar noch weit in den Schatten stellen.
Da war nur dieses Etwas, und dieses Etwas war, dass sie Riccardo liebte, wie sie noch nie jemanden geliebt hatte, und noch bevor alles zu Ende war, war sie sich sicher, dass sie nie wieder so lieben würde – zumal es nicht plötzlich aus war. Sie hatte von Anfang an gewusst, wie lange es dauern würde.
Bäume, auf die sich leicht steigen lässt
Riccardo war bereits verheiratet. Er hatte zwei Töchter. Und als der Monat, den Samuel Dubslawski, der Professor der Columbia
Weitere Kostenlose Bücher