Die beste Lage: Roman (German Edition)
eine Gelehrte der Fachrichtung Ethnologie von der Columbia University vorgestellt hatte –, fragte er sich, ob er nun endlich seine Muse gefunden hätte. Zumal Chatryn an diesem Abend bewies, dass sie von dem Thema, das ihm am Herzen lag, eine nicht nur theoretische Kenntnis besaß – nicht umsonst kam sie aus einer Familie von dago red , wie die Italoamerikaner in jener Zeit, als Weintrinken noch keineswegs als Ausdruck von Vornehmheit galt, wegen ihrer Vorliebe für Wein abqualifiziert wurden.
Sicher, der Wein, der bei den Wallitrinys auf den Tisch kam, war fast immer mittelmäßig und niemals von der erlesenen Qualität der Weine, die Gastell ihr an jenem Abend kredenzte, aber dennoch hatte er Chatryns Geschmackssinn geschult, den sie im Laufe der Jahre noch verfeinert hatte, indem sie, obwohl sie nur hin und wieder auf einen Artikel zum Thema gestoßen war, die unterschiedlichsten Weine, die auf den Tisch kamen, tatsächlich auch probiert hatte. Auf diese Weise war sie, wenn schon nicht als Expertin, so doch als wissbegierige Liebhaberin zu einem gewissen Niveau gelangt und verfügte über ungewöhnliche und daher stimulierende Bewertungskriterien, wie Gastell feststellen konnte, nachdem er ihr, ohne sie allzu viel von der Flasche sehen zu lassen, drei verschiedene Weine unterbreitet hatte: einen durchschnittlichen und zwei überaus kostbare, deren Qualität die Ethnologin sofort erkannte und mit einer Reihe wirklich »unüblicher« Eindrücke beschrieb.
»Gut, aber jetzt sagen Sie mir doch bitte, warum dieser hier«, fragte Gastell und deutete mit einem scheinheiligen Lächeln auf die erste der beiden lobenswerten Flaschen, »dreihundert Dollar kostet, in der Vinothek wohlgemerkt, und der da gerade mal einhundert.«
Nachdem Chatryn die Weine mit wachsender Begeisterung abermals gekostet hatte, kam sie zu folgendem Schluss: »Sie unterscheiden sich voneinander. Dieser da ist strenger und feierlich wie eine Kantate von Bach, wobei sich sein Geschmack später entfaltet, aber vielleicht interessanter ist. Der andere dagegen ist seidiger und zart wie eine kleine Mozart-Sinfonie. Aber soweit ich es beurteilen kann, sind beide hervorragend.«
»Sie haben vollkommen recht«, erwiderte er, fasziniert von ihren Vergleichen. Wohl wenige seiner hemdsärmligen Redakteure, die in Weinlaboren und inmitten der Weinberge von Napa Valley groß geworden waren, ohne je etwas anderes zu tun, als Traubensaft auszuspucken, hätten es so elegant ausgedrückt. »Und Sie sagen ganz richtig, dass die beiden Weine unterschiedlich ›klingen‹, obwohl sie von der gleichen Qualität sind. Da ich die Betriebe kenne, die sie produzieren, kann ich Ihnen verraten, dass sie auch ungefähr die gleichen Gestehungskosten haben.«
»Ach ja?«, wunderte sich Chatryn. »Woher dann dieser Preisunterschied?«
»Weil wir vom Wine Spectacle es so entscheiden … genau wie die Kunstkritiker über den Marktwert eines Künstlers entscheiden.« Dann nahm er die erste der beiden Flaschen in die Hand. »Diese ist also in der richtigen Gesellschaft, in unserer Gesellschaft …«, sagte er und fügte lächelnd hinzu: »Manchmal, wie zum Beispiel in diesem Fall, ist das, was den Unterschied zwischen zwei Weinen ausmacht, nur eine zusätzliche Note, ein bisschen mehr Tiefe, eine Frage von Nuancen, die so unmerklich sind, dass nur wenige Personen, sehr wenige, sie überhaupt wahrnehmen können.« Er wandte den Kopf zu den Nachbartischen und flüsterte spöttisch: »Wie viele dieser Leute hier, die ihre Gläser mit Kennermiene schwenken, sind Ihrer Meinung nach wirklich dazu imstande? Sie werden also verstehen, dass es jemanden braucht, der ihnen den Weg weist und ihnen sagt, welche Weine sie auswählen müssen, damit sie eine gute Figur machen. Und genau das ist unsere Aufgabe.«
Dann strich er mit dem Handrücken über die preiswertere Flasche und fuhr fort: »Glauben Sie aber ja nicht, dass Qualität keine Rolle spielt! Warten Sie nur ein paar Monate, und Sie werden sehen, wie viel dieser Bordeaux kosten wird … Wir vom Wine Spectacle haben ihn vor Kurzem entdeckt. Er stammt nicht aus einer Spitzenlage wie der andere, der aus dem Haut-Médoc kommt, aber trotzdem ist er schon hier im Circle gelandet. Die Sache ist nur, dass es Produzenten wie Sand am Meer gibt, während wir ganz wenige sind … Möchten Sie uns nicht behilflich sein bei dem, was ich als unsere Mission bezeichne?« Und er hob das Ballonglas auf Augenhöhe, um das opulente Spiel der
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