Die Beste Zum Schluss
Mal erleben zu dürfen.
Ich maile sie Gerd rüber. Drei Minuten später mailt er zurück: Geht doch. Oh Mann. Für mein Berufsleben hätte Sigmund Freud eine neue Kategorie erfunden: Die banale Phase .
Um den Tag zu toppen, blättere ich mich durch das Leseexemplar von Caros Biografie mein schönes leben , das in zwanzig Kapiteln, eines pro Lebensjahr, ihr Leben beschreibt, inklusive Geburt, erster Sex, zweiter Sex, dritter Sex – und, Grundgütiger, fünfundzwanzig Seiten über ein Nahtoderlebnis. Wo ist Ganztod, wenn man ihn braucht? Wenigstens ist das Ding gut geschrieben, denn kein Promi ist so verrückt, ein Jahr an ein schlechtes Buch zu verschwenden, wenn Ghostwriter das in vier Wochen richtig gut hinbekommen. Ausnahme: unser aller Popfürst. Er hat sein letztes Buch selbst geschrieben, um Geld zu sparen. Ein Multimultimultimillionär, der ein schlechtes Buch veröffentlicht, um das Honorar für einen Ghostwriter zu sparen. Daneben wirkt ein zwanzigjähriges Mädchen, das sich einfach auf die gute altmodische Art hochgebumst hat, weil es zu anstrengend ist, ein vertikales Handwerk zu lernen, fast sympathisch. Gott, es nervt, über diese Leute zu berichten. Sie sind nicht wichtig , sie sind bloß bekannt , und das kann heutzutage jeder werden, der sich mit Dünnpfiff ein Hakenkreuz auf die Stirn schmiert. Gott, was mache ich hier? Früher wollte ich die Welt verändern. Doch die Welt veränderte mich.
Ich schaue aus dem Fenster und atme den Anfall von Selbstmitleid weg. Im Kapitalismus gilt man als Gewinner, wenn man Geld verdient, und ich verdiene Geld. Nur das Gewinnergefühl will sich nicht einstellen. Vielleicht wird es in ein paar Monaten besser, als Chefredakteur bestimme ich die Themen und verdiene genug, um in ein Haus mit Garten am Stadtrand zu ziehen. Die Kinder werden ausflippen. Nur noch ein paar Monate.
Ich wende mich wieder Caros Leseprobe zu und blättere mich durch, ohne eine Stelle zu finden, die mich interessiert, also schiebe ich das Ding beiseite und brüte über einer watteweichen Recherchemappe mit den Infos, die Steffy über die Geilste zusammengestellt hat. Schwerpunkt: Kernaussagen von Caros bisherigen Interviews … Was ist Ihr Lebensmotto? (»Tu Gutes« / Focus) … Was bemerken Sie bei Männern als Erstes? (»Die Augen« / Bunte) … Kochen Sie gerne? (»Pasta« / Gala) … Reisen Sie gern? (»Malediven« / Frau im Spiegel.)
Ein Meerschweinchen quiekt. Renes Bild leuchtet auf dem Display. Ich gehe ran.
»He, die haben mir Neudeck gekippt. Weißt du, wen ich stattdessen porträtieren darf? Die Geil…«
»Holst du bitte die Kinder?«, unterbricht sie mich. »Nina hat heute keine Zeit, und ich schaffe es nicht pünktlich, ich habe gleich noch ein Meeting.«
Ich zögere. Wenn ich die Kids hole, müsste ich schon bald losfahren, und außerdem wäre es vielleicht pädagogisch wertvoller, wenn ich nicht immer alles tun würde, was Rene will.
»Wenn du nicht kannst, muss ich Sandra fragen«, sagt sie.
Prima. Das heißt, die Kinder würden wieder Zeit mit Sandras schwachsinnigem Sohn verbringen, was bedeutet: Wenn sie später mal jemanden umbringen, kriegen sie dreißig Jahre Straferlass wegen seelischer Grausamkeit in der Kindheit. Für Sandras Sohn existieren Lebewesen nicht, Menschen sind Gegenstände, mit denen man machen darf, was man will. Wird später hundertpro Präsident einer Bank.
»Okay, aber dafür kommst du heute Abend mit.«
Die Verbindung ist tot. Manchmal frage ich mich, was sie ohne mich machen würde. Im selben Moment sticht mich ein Schuldgefühl. Sie ist nicht nur der Mensch, den ich am längsten kenne, sondern auch, neben ihrem Vater, der einzige Mensch in meinem Leben, der meine Eltern gekannt hat, und damit die einzige Verbindung zu meiner Vergangenheit. Sie ist meine Familie.
Während ich den Computer runterfahre und meine Jacke anziehe, spüre ich ein Kribbeln auf der Wange, wie das Züngeln einer Schlange. Ich brauche erst gar nicht hinzuschauen, ob Vanessa mich beobachtet. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Achte auf deine Gedanken, sie sind der Anfang deiner Tat. So gesehen, muss Vanessa sich warm anziehen.
Trotz der Rushhour, die man so langsam in »Rushday« umbenennen könnte, stehe ich pünktlich um siebzehn Uhr an der Kita, und als die Kinder rauskommen, meine ich, ein zweistimmiges Juchzen zu hören. Sie sind mittlerweile schon so daran gewöhnt, zwischen den Babysittern herumgeschoben zu werden, dass ihnen ein pünktliches Abholen
Weitere Kostenlose Bücher