Die Beste Zum Schluss
Silben.
Er verlässt die Küche. Ich höre seine Schritte durch das Haus, bis er sein Bett erreicht. Bettfedern knarren schwer, dann löst er sich akustisch in Luft auf. Zurück bleibt ein lähmendes Gefühl der Sorge.
Zum ersten Mal bin ich froh, das Kinderzimmerbett zu sehen. Ich hocke mich auf die Bettkante, schließe die Augen und lasse mir das Gespräch durch den Kopf gehen, doch nicht, was er sagte, beschäftigt mich, sondern wie und warum. Seine Frau ist gestorben, aber ich kann mich nicht damit befassen, dass Rene vielleicht auch sterben könnte. Der Gedanke, dass die Kinder zu Waisen werden könnten …
Ich stehe auf und beginne, in dem kleinen Zimmer herumzulaufen. Mit achtzehn erlebte ich, wie von einem Tag auf den anderen, plötzlich der Boden meiner Welt verschwand. Plötzlich war ich dem Leben ungeschützt ausgesetzt, ohne ältere Menschen, die korrigierend und liebend eine Hand über mich hielten. Seitdem fühlte ich mich nirgends mehr sicher, bis zu dem Tag, an dem Rene wieder in meinem Leben auftauchte und mir mein neues Zuhause schenkte. Ich will das nicht verlieren. Ich will Rene nicht verlieren. Ich muss dieses Gefühl loswerden, aber ich weiß nicht wie. Gott, wäre es schön, wenn ich jetzt mit Rene reden könnte. Oder mit jemand anderem. Zum ersten Mal seit fünf Jahren denke ich an einen weiteren Menschen, wenn ich mich einsam fühle.
Ich lege mich aufs Bett, schließe die Augen und denke an Eva. Als ich die Augen wieder öffne, ist die Traurigkeit über die Sorgen von Renes Vater fast verflogen – dafür vermisse ich Eva, dass es wehtut. Tolle Therapie.
Ich stehe auf, klappe den Laptop auf und beginne zu schreiben.
Um sechs Uhr geht die Sonne auf. Vögel zwitschern, und ich sitze seit Stunden im Schneidersitz auf der weichen Matratze, mit dem Laptop auf dem Schoß. Ich habe Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und einen Text, der mir zum ersten Mal seit Jahren das Gefühl gibt, das ich am Schreiben liebe. Mir ist noch nicht ganz klar, wie das eine ann a -Reportage werden soll, aber immerhin habe ich Caros Buchtitel in der Headline erwähnt. Als meine beste Freundin Brustkrebs bekam und jemand auswanderte – übrigens, Caros neues Buch heißt: »Mein schönes Leben«. Gonzo-Journalismus vom Feinsten. Hunter S. Thompson wäre stolz auf mich. Wäre spannend, was Gerd dazu sagen würde. Aber das werde ich nie erfahren, weil ich nicht so blöd bin, ihm diesen Text zu schicken. Zum einen würde er ihn mir um die Ohren schlagen, zum anderen gibt er zu viel von mir preis. Aber es hat sich gelohnt, ihn zu schreiben, denn dabei ordnete sich das Chaos in meinem Kopf. Manchmal versteht man etwas erst, wenn man es laut ausspricht, und manchmal sortieren die Dinge sich erst, wenn man versucht, sie verständlich aufzuschreiben. Die Angst und Verwirrung, die das Gespräch mit Renes Vater hinterlassen hatten, sind verflogen.
Ich strecke mich auf der Matratze aus, knacke eine Rückenmelodie und lese den Text noch mal. Wieso habe ich eigentlich aufgehört, Tagebuch zu schreiben? Es war mal das wichtigste Instrument der Reflexion für mich. So wie wir die Kinder abends von ihrem Tag erzählen lassen, damit sie ihn verarbeiten, setzte ich mich früher hin und schrieb. Das Tagebuch war mein Blitzableiter, und doch hörte ich an meinem Achtzehnten damit auf. Nach dem Unfall war mir alles zu viel, ich wollte nicht nachdenken, nicht reflektieren. Ich wollte Ruhe. Und das war in Ordnung. Aber nicht für immer. Ich hätte längst in den Schmerz gehen sollen, stattdessen bin ich ihm ausgewichen. Das will die verdammte Welle mir sagen! Ich bedrohe dich dein Leben lang, bis du endlich den Arsch hochkriegst. Scheiße, vielleicht haben die Therapeuten doch recht, vielleicht ist die Welle wirklich mein Freund? Na, wer braucht da noch Feinde …
Ich rutsche in den Schneidersitz zurück und denke über diese Erkenntnis nach. Und die Bedeutung dessen. Freud sagte, wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden, als Freude zu gewinnen. Aber man kann ihn nicht immer nur vermeiden.
Ich strecke mich wieder auf dem Bett aus und gehe die Sache in Ruhe durch. Seit dem Tod meiner Eltern wurde ich permanent analysiert und therapiert. Immer drehte es sich um die Vergangenheit, nie um die Gegenwart oder gar um die Zukunft. All die Jahre wusste ich, dass ich mich vor unangenehmen Dingen drückte, doch erst in diesem Moment wird mir klar, dass ich seit meinem achtzehnten Geburtstag aufgehört habe zu agieren. Ich habe mich
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