Die besten Freunde meines Lebens - Roman
eines, was für Gewichtszunahme verantwortlich war: Essen. Sie musste aufhören zu essen. Und aufhören, so viel zu trinken. Nur wie?
Die Frage ging Lizzie nach, während sie sich wusch, die Zähne putzte, mit Mundwasser nachspülte und versuchte sich zu schminken, ohne sich allzu genau im Badezimmerspiegel anzusehen. Sie mochte ihr Gesicht nicht besonders. Vom Hals abwärts war ihr Aussehen noch inakzeptabler und wurde mit jedem Tag schlimmer. Sie kannte sich gut genug – wie jede in ihrem Alter hatte sie an der Uni das Antidiätbuch gelesen –, um zu wissen, dass Essen bei ihr mit Stress oder Depression zu tun hatte. Oder mit beidem.
Doch wie sollte sie das in den Griff kriegen? Plötzlich schämte sie sich. Typische Wohlstandssorgen, dachte sie. Schau dich doch um, wie gut es dir geht. Ein schönes Haus, ein guter Job, ein erfolgreicher Mann, zwei Autos. Was immer sie wollte, innerhalb eines vernünftigen Rahmens …
Sie öffnete den Schrank und griff, ohne wirklich hinzusehen, nach ihrem »Elternabend-Outfit«: gut geschnittener schwarzer Rock, grauer Kaschmirpullover, Trenchcoat, mittelhohe Pumps. Die einzige Kleidung, in der sie sich erwachsen genug fühlte für ihr heutiges Vorhaben, das ihr sehr viel Erwachsensein abverlangte.
Sobald sie ihren kleinen Renault startete und aus der Ausfahrt zurücksetzte, schien der Wagen zu wissen, wohin die Fahrt ging. Bei den ersten Besuchen im Pflegeheim hatte sich Lizzie jedes Mal hoffnungslos verfahren, war von dem Navigationsgerät, auf dessen Einbau Gerry bestanden hatte, auf absurde Umwege geleitet worden. Inzwischen brauchte sie es gar nicht mehr anzuschalten, da sie die Strecke im Schlaf kannte.
Radio Four war auf diesen Fahrten ihr ständiger Begleiter. Als das Ende von Broadcasting House in The Archers über ging, fuhr Lizzie auf eine M25-Raststelle ab und trank einen großen Caf f è Latte, schön fett und cremig, um sich schon einmal im Voraus für die bevorstehende Herausforderung zu belohnen.
Die Serie The Archers wurde von der Musiksendung Desert Island Discs abgelöst. Diesmal stellte ein Industriemagnat, von dem Lizzie noch nie gehört hatte, seine Favoriten vor und erzählte ein wenig über seine ärmliche Kindheit in Liverpool. Noch ehe sein zweites Stück verklungen war, bog Lizzie in den von Bäumen gesäumten Parkplatz von The Cedars ein.
Wie die vielen anderen Pflegeheime, die Lizzie auf der Suche nach einem Pflegeplatz für ihre Mutter besichtigt hatte, war auch The Cedars nicht als das zu erkennen, was es in Wahrheit war. Ein vorbeifahrender Fremder hätte es wahr scheinlich für eine in den Achtzigern erbaute Hotelanlage gehalten, ohne jeden Charme und auf einfache Bedürfnisse hin ausgerichtet. Innen war es nicht anders: verblichenes Motel-Dekor, Magnolientapeten, geblümte Sitzmöbel mit dazu passenden Samtkissen und Samtvorhänge. Die mit Holz verkleidete Gebäudefront hatte viereckige Fenster, die auf den von hohen Koniferen gesäumten Rasen und den davor liegenden Parkplatz hinausgingen. Inzwischen konnte Lizzie nicht mehr nachvollziehen, warum ihr The Cedars am Anfang so gut gefallen hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich das damals einreden müssen, um diesen Schritt überhaupt machen zu können.
»Los, mach schon.« Sie legte die Hände auf das Lenkrad und atmete einige Male tief durch. »Je eher du reingehst, desto schneller bist du wieder draußen.«
Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, überprüfte, ob in ihrem Gesicht noch alles dort war, wo es sein sollte, klebte ihr »Das hast du aber fein gemacht«-Lehrerinnenlächeln auf, schnappte sich ihre Handtasche vom Rücksitz, strich ihren Pullover glatt und stieg aus.
Eine Frau mittleren Alters mit kurzem, ergrauendem Haar und Brille blickte vom Computer auf, als Lizzie an die Fliegengittertür klopfte.
»Hallo, Mrs. O’Hara«, sagte die Pflegeheimleiterin. »Wir hatten Sie letzten Samstag erwartet.«
»Hallo, Janet«, erwiderte Lizzie mit gezwungenem Lächeln. Mit ihrer ökonomischen Wortwahl war diese Frau ein Paradebeispiel für stumme Aggression.
»In der Schule ist gerade viel zu tun«, sagte Lizzie und versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. »Ich bemühe mich zwar, jedes Wochenende zu kommen, aber das ist nicht immer möglich. Vor einigen Wochen hatte ich ja erwähnt, dass ich ein, zwei Besuche ausfallen lassen muss.« Wie sie auch mehr als einmal erwähnt hatte, dass sie zwar eine verheiratete Mrs. war und den Mädchennamen O’Hara hatte, aber
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