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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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aufmerksam. Doch schon war es nicht mehr zu sehen, seine Augen hätten geträumt, so pflegte er in solchen Fällen zu sagen. Dem Locomotivführer, der nichts gesehen hatte, klopfte das Herz; ihn beunruhigte diese Hallucination des Andren, er verlor das Vertrauen zu sich selbst.Er bildete sich ein, jenseits dieses bleichen Gewimmels von Flocken unendliche schwarze Formen und mächtige Massen gleich riesigen, nächtlichen Wolken unterscheiden zu können, die vor der Locomotive wogten und herandrängten. Es war ihm, als ob eingestürzte Abhänge und Berge den Schienenweg sperrten, als ob der Zug an ihnen zerschellen müsste. Von Furcht gepackt, zog er am Ventil der Dampfpfeife und lange anhaltend, verzweiflungsvoll gellte ihr Pfiff. Wie ein Schrei der Klage übertönte er den Sturm. Und wie erstaunte er, daß er zur rechten Zeit gepfiffen hatte, denn mit voller Geschwindigkeit durchsauste der Zug den Bahnhof von Saint-Romain, von dem er sich noch zwei Kilometer entfernt geglaubt hatte.
    Die Lison hatte jetzt die fürchterliche Steigung hinter sich und konnte nun ohne besondere Anstrengung weiterfahren. Jacques durfte etwas aufathmen. Von Saint Romain bis Bolbec steigt die Strecke fast unmerklich, bis an das andere Ende des Plateaus ging wahrscheinlich Alles gut. Nichtsdestoweniger rief er in Beuzeville, wo er einen Aufenthalt von drei Minuten hatte, den Bahnhofsinspector zu sich und verhehlte ihm nicht seine Befürchtungen angesichts der noch immer zunehmenden Schneedecke: er würde sicherlich nicht bis Rouen kommen, er hielte es für gerathen, eine zweite Maschine vorzulegen, in Beuzeville ständen ja so wie so stets Reservelocomotiven. Der Bahnhofsvorsteher meinte indessen, er hätte keine dahingehende Befehle und glaubte nicht, diese Maßnahme verantworten zu dürfen. Was er thun konnte, war, daß er ihm fünf bis sechs hölzerne Schaufeln gab, um im Falle der Noth die Schienen freizuschaufeln. Pecqueux nahm sie in Empfang und schichtete sie in einer Ecke des Tenders auf.
    Auf dem Plateau setzte die Lison ihre Fahrt in der That mit der richtigen Schnelligkeit ohne zu große Mühe fort. Trotzdem arbeitete sie sich ab. Von Minute zu Minute mußte der Locomotivführer die Thür zur Feuerung öffnen und Kohlen auflegen lassen. Und jedesmal flammte über dem düsteren Zug, dem einzigen schwarzen Punkt inmitten dieses weißen Bahrtuches der feurige Kometenschweif in die Nacht hinaus. Die Uhr zeigte ein Viertel vor acht Uhr, der Tag dämmerte herauf, aber man unterschied kaum in dem unendlichen weißen Wirbel, der von einem Horizont bis zum andern denHimmelsraum ausfüllte, seinen fahlen Wiederschein. Diese trübe Klärung, in der sich noch immer nichts unterscheiden ließ, beunruhigte in noch weit höherem Maße die beiden Männer, welche, die Augen trotz ihrer Brillen voll Thränen, in die Weite zu sehen sich abmühten. Ohne die Kurbel des Fahrtregulators aus der Hand zu lassen, zog der Locomotivführer vorsichtiger Weise unaufhörlich das Ventil der Dampfpfeife und es klang wie schmerzliches Weinen durch diese Schneewüste.
    Ohne Zwischenfall passirte man Bolbec, dann Yvetot. In Motteville machte Jacques dem Unter-Inspector, der ihm keine zuverlässigen Nachrichten über die Beschaffenheit des Weges geben konnte, abermals Vorstellungen. Es war noch kein Zug hier eingetroffen, mittels Depesche war gemeldet worden, daß der Pariser Bummelzug in Rouen eingetroffen sei und dort festliege. Die Lison dampfte matt und müde über die drei Meilen sanfter Steigung bis Barentin. Jetzt erwachte bleich der Tag, aber es schien, als rührte dieser durchsichtige Schimmer nur vom Schnee her. Er fiel noch dichter, es war, als wäre der Himmel geborsten und seine Trümmer sänken im eisigen Grauen des Morgens auf die Erde. Der Wind nahm mit dem Tage an Heftigkeit zu, die Flocken wurden wie Kugeln dahingejagt, alle Augenblicke mußte der Heizer zur Schaufel greifen, um die Kohlen des Tenders zwischen den Wänden des Wasserbehälters frei zu schippen. Rechts und links erschien die Landschaft den beiden Männern so undeutlich wie in einem flüchtigen Traum: die meilenweiten flachen Felder, die von lebendigen Hecken eingefaßten Weideplätze, die mit Obstbäumen eingehegten Chausseen waren ein einziges, kaum von niedrigen Schwellungen unterbrochenes weißes Meer, eine zitternde, blasse Unendlichkeit, in deren Weiß Alles aufging. Der Lokomotivführer, das Gesicht gepeitscht von der Windsbraut, die Hand an der Kurbel, begann jetzt

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