Die Bestie im Menschen
präsentirte und den Zug mit ihren flammenden Blicken musterte.
Seit das Mädchen die Umarmung der Beiden an jenem Schneetage belauscht, hatte Jacques Séverine vor Flore wiederholt gewarnt. Er kannte die ihm schon von Jugend auf nachstellende leidenschaftliche Liebe dieses wilden Kindes, und er ahnte, daß ihre jungfräulich energische Eifersucht einen tödtlichen und zügellosen Haß ausbrütete. Andrerseits mußte sie von vielem wissen, denn ihm fiel immer wieder ihre Bemerkung ein, daß der Präsident Beziehungen zu einer Dame hatte, die jetzt verheirathet sei und die Niemand verdächtige. Wußte sie das, so konnte sie sich auch das Verbrechen zusammenreimen: zweifellos hatte sie die Absicht, zu sprechen oder zu schreiben, kurz sich durch eine Denunziation zu rächen. Aber Tage und Wochen waren verflossen, ohne daß etwas Besonderes vorfiel, noch immer sah er sie stolz aufgerichtet auf ihrem Posten mit der Fahne in der Hand. Er hatte das Gefühl, als ob ihre glühenden Augen ihn schon träfen, sobald sie seine Locomotive in der Ferne zu Gesicht bekam. Ihr Blick fand ihn durch den Qualm, nahm ihn völlig gefangen und begleitete ihn beim Getöse der Räder auf seiner blitzschnellen Fahrt. Und gleichzeitig mit ihm wurde der Zug selbst gemustert, durchbohrt, durchsucht vom ersten bis zum letzten Waggon. Und ihr Auge fand auch immer die Nebenbuhlerin, die jetzt jeden Freitag, wie sie wußte, mit Jacques fuhr. Was nützte es Séverine, daß sie, durch das Verlangen, jene sehen zu wollen, gebieterisch angespornt, ihren Kopf nur ein ganz klein wenig nach vorn beugte: sie wurde gesehen und Beider Blicke kreuzten sich wie Schwerter. Heißhungrig entfloh der Zug, nur sie blieb ohnmächtig am Boden kleben, wüthend über das Glück, das er in sich barg. Sie schien zu wachsen, jedenfalls kam es Jacques so vor, so oft er siewiedersah. Ihr Nichtsthun in der ganzen Angelegenheit machte ihn sehr besorgt, er fragte sich vergebens, welcher Plan in diesem, so düster blickenden großen Mädchen reifte, deren marmorner Erscheinung er nicht aus dem Wege gehen konnte.
Auch der Zugführer, Henri Dauvergne, war Beiden unbequem. Er hatte ebenfalls Dienst bei dem Zuge am Freitag und bewies der jungen Frau eine aufdringliche Liebenswürdigkeit. Ihr Verhältnis zu dem Locomotivführer war ihm bekannt und er hoffte, daß auch an ihn vielleicht die Reihe kommen würde. Wenn Roubaud bei der Abfahrt von Havre gerade Dienst hatte, boste er sich über die ihm nicht verborgen bleibenden Aufmerksamkeiten Henri’s: er reservirte ein Koupee für Séverine, half ihr beim Einsteigen und sah persönlich nach der Heizung. Eines Tages hatte sogar der eigene Gatte, der übrigens nach wie vor mit Jacques sprach, als wäre nichts vorgefallen, diesen durch ein Blinzeln mit den Augen auf das Gebahren des jungen Menschen aufmerksam gemacht, als wollte er Jacques fragen, ob er so etwas litte. Bei gelegentlichen Zänkereien mit seiner Frau ließ er es durchblicken, daß er sie im Verdacht habe, es mit Beiden zu halten. Séverine bildete sich eine Zeitlang ein, daß auch Jacques das glaubte und wurde sehr traurig gestimmt. Unter Schluchzen und Weinen betheuerte sie ihm ihre Unschuld und daß sie sich eher tödten als ihm untreu sein würde. Er hatte sie, trotzdem er sehr bleich war, gehätschelt, umarmt und sie damit beruhigt, daß er sie immer für ehrbar gehalten hätte, er hoffte also, daß Niemand deshalb zu sterben brauchte.
Die ersten Abende des März brachten so scheußliches Wetter, daß sie ihre Stelldicheins aufgeben mußten; aber die Reisen nach Paris, diese wenigen Stunden der Freiheit genügten Séverine nicht mehr. Ihr verlangte danach, Jacques ganz für sich zu haben, mit ihm gemeinsam leben und Tag und Nacht bei ihm zubringen zu können. Ihre Abneigung gegen ihren Mann wuchs, das tägliche Gebundensein an diesen Menschen trieb sie in eine krankhafte, unerträgliche Aufregung hinein. So sanft und nachgiebig sie sonst als Frau auch war, sobald es sich um ihn handelte, fuhr sie aus der Haut, wenn er ihr nicht sofort ihren Willen ließ. In solchen Augenblicken schien es, als senkte sich der tiefe Schatten ihrer dunklen Haare auch auf das durchsichtige Blau ihrer Augen nieder.Sie wurde wild, sie warf ihm vor, ihre Existenz vergiftet zu haben, so daß ein ferneres Leben an seiner Seite unmöglich war. Hatte er nicht Alles herbeigeführt? Daß ihr eheliches Leben in Trümmer gegangen war, daß sie einen Liebhaber hatte, war es nicht sein Verschulden?
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