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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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und automatisch über die Sicherheit der Geleise wachte, hatte er an das Gift gedacht; wenn er mit trägen Armen und vom Schlaf zufallenden Augen wartend dasaß, dachte er erst recht daran. Nichts weiter als dieses: er würde sie tödten, suchen und das Geld für sich allein haben können.
    Jacques war erstaunt, ihn jetzt unverändert zu sehen. Man tödtete also ganz gemächlich und das frühere Leben nahm seinen Fortgang! Nachdem das erste Fieber sich gelegt, war Misard in der That in sein altes Phlegma zurückgesunken; er schien wieder ganz das heimtückische, sanfte, kraftlose Wesen, das jeder Erschütterung vorsichtig aus dem Wege geht. Was nützte es ihm nun, seine Frau verzehrt zu haben, sie triumphirte schließlich doch, denn er bliebgeschlagen. Er stellte das ganze Haus auf den Kopf, ohne einen Centime zu entdecken, und seine unruhig umherirrenden, suchenden Blicke allein verriethen, was für Gedanken hinter seinen erdfahlen Zügen hausten. Noch immer sah er die weit offen stehenden Augen der Todten, hörte er das schreckliche Lachen ihrer Lippen wiederholen: »Such! Such!« Er versuchte vergeblich, seinem Gehirn eine Minute Ruhe zu gönnen; unermüdlich arbeitete und arbeitete es weiter, immer war er auf der Suche nach dem Ort, wo der Schatz vergraben sein konnte. Er prüfte in Gedanken immer wieder alle möglichen Verstecke, er sonderte die aus, welche er schon abgesucht hatte und fieberte, wenn er einen neuen entdeckt zu haben glaubte. Dann wußte er sich vor Hast nicht zu lassen und ließ alles stehen und liegen, um dahin zu rennen: natürlich ohne jeden Erfolg. Es war das eine auf die Dauer unerträgliche Marter, eine rächerische Marter, eine Art cerebraler Schlaflosigkeit, die ihn unter dem uhrartigen Tick-Tack seiner fixen Idee fortwährend wach hielt, dumm machte und gegen seinen Willen auch nachdenkend. Während er tutete, einmal beim Herunterfahren eines Zuges, zweimal beim Herauffahren, wenn er an den Knöpfen der Apparate drückte, die Geleise schloß oder öffnete, suchte er; er suchte unaufhörlich, er suchte fast wahnsinnig den ganzen Tag während des langen Wartens, seine Unthätigkeit war gestört, ebenso wie des Nachts sein Schlaf; wie an’s Ende der Welt verbannt einsam hausend in dem Schweigen der weiten düstren Gegend, suchte und suchte er. Die Ducloux, die jetzige Barrierenwärterin, die gern von ihm geheirathet sein wollte und daher sehr um ihn war, beunruhigte sich schon darüber, daß er kein Auge schließen konnte.
    Als Jacques, der bereits im Zimmer etwas auf und ab gehen durfte, eines Nachts aufgestanden und an’s Fenster getreten war, sah er in Misard’s Haus eine Laterne aufblitzen und wieder verschwinden: der Mann suchte zweifellos wieder. Als aber in der folgenden Nacht der Rekonvalescent von Neuem ihn beobachtete, wunderte er sich nicht wenig, in einem dunklen, großen Schatten Cabuche zu erkennen, der auf der Landstraße unter dem Fenster des benachbarten Zimmers stand, in welchem Séverine schlief. Anstatt sich darüber zu ärgern, fühlte er sich von Mitleid und Traurigkeit tiefbewegt: wieder ein Unglücklicher, dieser große, brutale Mensch, der sich wie ein betrübtes, treues Thier dort aufgepflanzt hatte. Diese schmächtige und bei näherem Hinsehen gewiß nicht schöne Séverine mit ihren tintenschwarzen Haaren und bleichen Nixenaugen mußte doch einen mächtigen Reiz auszuüben im Stande sein, wenn sie selbst die Wilden, die bornirten Riesen so bezaubern konnte, daß sie selbst die Nächte wie zitternde Schulbuben vor ihrer Thür zubrachten! Er erinnerte sich verschiedener Thatsachen, der großen Hilfsbereitwilligkeit des Kärrners, der demüthigen Blicke, mit denen er sie verfolgte. Zweifellos liebte und begehrte Cabuche sie. Als er ihn am folgenden Morgen beobachtete, sah er ihn eine beim Zurechtmachen des Bettes aus ihren Haaren geglittene Nadel schnell aufraffen und in seiner Hand verbergen, um sie nicht wiedergeben zu müssen. Jacques dachte an seine eigenen Qualen, wie sehr er ebenfalls unter dem Verlangen gelitten hatte, das jetzt zugleich mit der Gesundheit in schrecklicher, verwirrender Gestalt zu ihm zurückkehrte.
    Zwei Tage noch und die Woche war um; die Verwundeten konnten dann, wie der Arzt vorausgesagt, ihren Dienst wieder antreten. Eines Morgens sah Jacques vom Fenster aus seinen Heizer Pecqueux auf einer ganz neuen Lokomotive vorüberfahren. Letzterer grüßte ihn mit der Hand, als riefe er ihn zu sich. Aber Jacques fühlte keine Eile, ein

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