Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
liebenswürdig, Sie beschämen mich. Kommen Sie doch öfter. Mein Mann ist, wie Sie wissen, stets an der Kasse und ich langweile mich so sehr. Meine Beine lassen mich leider nicht aus dem Zimmer. Was sollte aus mir werden, wenn mir jene Elenden die Aussicht nähmen?« Als sie die andere an die Thür begleitete und öffnete, legte sie den Finger an die Lippen.
    »Pst! Wir wollen mal hören!«
    Beide standen an fünf Minuten bewegungslos im Korridor. Man hörte nicht einmal ihren Athem. Sie neigten den Kopf nach dem Eßzimmer der Roubaud und spitzten die Ohren. Aber es war nichts zu hören, es herrschte dort eine todesähnliche Stille. Sie fürchteten überrascht zu werden und trennten sich daher. Sie nickten sich mit dem Kopfe ein Lebewohl zu, sagten aber nichts. Die eine entfernte sich auf den Fußspitzen, die Andere schloß die Thür so leise, daß man nicht einmal den Schnepper in’s Schloß fallen hörte.
    Um neun Uhr zwanzig Minuten sah man Roubaud wieder in der Halle. Er überwachte das Rangiren des Bummelzuges um neun Uhr fünfzig Minuten. Trotz seiner Selbstbeherrschung gestikulirte er viel, er stampfte mit den Füßen und wandte fortwährend den Kopf, um die Halle von einem Ende bis zum anderen zu durchforschen. Nichts geschah, seine Hände zitterten.
    Plötzlich, gerade als er einen flüchtigen Blick hinter sich warf, hörte er neben sich die Stimme eines Telegraphenboten, der athemlos fragte:
    »Wissen Sie nicht, wo der Herr Bahnhofsvorsteher und der Polizeicommissär zu finden sind, Herr Roubaud? … Ich habe hier zwei Depeschen für sie und suche sie schon zehn Minuten …«
    Er hatte sich umgedreht, kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, so beherrschte er sein ganzes Wesen. Seine Augen hafteten auf den beiden Depeschen in der Hand des Austrägers. Angesichts der Aufregung des Anderen war er jetzt seiner Sache sicher. Die Katastrophe war da.
    »Herr Dabadie ist vor Kurzem hier vorbeigegangen,« sagte er gelassen.
    Noch nie hatte er sich so kaltblütig, bei vollem Bewußtsein, so gewappnet für seine Vertheidigung gefühlt, wie gerade jetzt.
    »Da kommt Herr Dabadie,« setzte er gleich hinzu.
    Der Bahnhofsvorsteher kam langsam näher. Kaum hatte er aber die Depesche gelesen, rief er laut aus: »Ein Mord auf unserer Strecke … Der Inspector von Rouen telegraphirt es mir.«
    »Wie,« fragte Roubaud, »ein Mord unter unserem Personal?«
    »Nein, nein, ein Reisender in seinem Koupee … der Körper muß gleich hinter dem Tunnel von Malaunay bei Pfahl 153 aus dem Waggon geworfen sein. –Das Opfer ist einer unserer Verwaltungsräthe, der Präsident Grandmorin.«
    Jetzt schrie der Unter-Inspector auf:
    »Der Präsident! … O, meine arme Frau, das wird ihr Kummer machen!«
    Der Ausruf kam so passend und schmerzlich von seinen Lippen, daß Herr Dabadie stehen blieb:
    »Ja, ganz recht. Sie kennen ihn ja. Ein braver Mann, nicht?«
    Dann fiel ihm das zweite, an den Polizeicommissär gerichtete Telegramm ein:
    »Das kommt gewiß vom Untersuchungsrichter, irgend einer Formalität wegen … Es ist erst fünf Minuten vor halb zehn, Herr Cauche natürlich noch nicht hier … Es soll Jemand schnell nach Café du Commerce am Napoleonsgraben laufen, dort wird er sicher zu finden sein.«
    Fünf Minuten später kam Herr Cauche in der Begleitung des nach ihm gesandten Arbeiters. Ein ehemaliger Offizier, betrachtete er sein Amt nur als einen Ruheposten; er erschien deshalb nie vor zehn Uhr im Bahnhof, flanirte dort etwas umher und ging dann wieder ins Café zurück. Dieses Drama, das gerade zwischen zwei Partien Piquet hineinregnete, versetzte ihn zunächst in großes Erstaunen, denn für gewöhnlich waren die Geschäfte, die er zu erledigen hatte, weniger bedenklicher Natur. Die Depesche kam in der That vom Untersuchungsrichter in Rouen. Der Umstand, daß sie erst zwölf Stunden nach Entdeckung des Leichnams eintraf, erklärte sich daraus, daß der Untersuchungsrichter zuvor an den Bahnhofsvorsteher in Paris depeschirt hatte, um zu erfahren, unter welchen Umständen das Opfer abgefahren war. Dadurch erfuhr er auch die Nummer des Zuges und des Waggons und jetzt erging an den Polizeicommissär der Befehl, die Koupees in Waggon 293 zu visitiren, falls sich dieser Wagen noch in Havre befinden sollte. Schnell war die von Herrn Cauche gezeigte schlechte Laune über die Störung verflogen und machte einer strengen Amtsmiene Platz, ganz entsprechend der außergewöhnlichen Bedeutsamkeit des Vorfalles.
    »Der Waggon wird aber nicht

Weitere Kostenlose Bücher