Die Bestie im Menschen
jene bei dem geringsten Alarm wecken mußte, konnte nur mit gespitzten Ohren schlummern. Aus Furcht, daß ihn gegen Morgen hin doch der Schlaf übermannen könnte, hatte er seine Weckuhr auf fünf gestellt, um welche Zeit er wach sein mußte, um den ersten von Paris kommenden Zug zu empfangen. Doch seit jüngster Zeit namentlich plagte ihn eine große Schlaflosigkeit, so daß er sich unruhig in seinem Sessel hin- und herwälzte. Dann ging er hinaus, machte die Runde und drang bis zu dem Weichenstellerhäuschen vor, wo er ein wenig plauderte. Der mächtige, düstere Himmel, der überwältigende Friede der Nacht beruhigten etwas sein Fieber. In Folge eines Herumbalgens mit Dieben hatte man ihn mit einem Revolver bewaffnet, den er stets geladen in der Tasche trug. Oft promenirte er so bis zum Anbruch der Dämmerung umher; er blieb oft stehen, weil er glaubte, die Nacht weiche bereits, dann marschirte er weiter, wobei er bedauerte, daß keine Gelegenheit sich biete, um seine Waffe abfeuern zu können, und fühlte sich nicht eher erleichtert, bis der Himmel sich aufhellte und das große, bleiche Bahnhofsgespenst aus dem Schatten trat. Jetzt, wo der Tag bereits um drei Uhr anbrach, kehrte er um diese Zeit in das Bureau zurück und versank dort in einen bleiernen Schlaf, bis seine Weckuhr ihn verstört auffahren machte.
Am Donnerstag und Sonnabend jeder zweiten Woche trafen sich Séverine und Jacques; als sie in einer Nacht ihm von dem Revolver ihres Gatten erzählte, fühlten sich Beide nicht wenig beunruhigt. In Wahrheit ging Roubaud nie bis zum Depot. Nichts desto weniger gab der Umstand seiner Bewaffnung ihren nächtlichen Promenaden den Anstrich eines gefährlichen Unternehmens, was ihren Reiz verdoppelte. Sie hatten ein herrliches Plätzchen entdeckt: hinter dem Hause der Sauvagnat eine Art von Allee, die zwischen mächtigen Steinkohlenhaufen hindurch führte und einer einsamen Straße in einer befremdlichen Stadt mit Palästen aus mächtigen Quadratblöcken schwarzen Marmors glich. Dort war man gut geborgen und am Ende dieser Straße lag eine kleineWerkzeugremise, in welcher ein großer Haufen leerer Kohlensäcke ein molliges Lager bildete. Als eines Sonnabends ein plötzlicher Regenguß sie dorthin zu fliehen nöthigte, weigerte sie sich durchaus, sich niederzulassen und überließ ihm nur ihre Lippen zu unendlichen Küssen. Hiergegen wehrte sich ihr Schamgefühl nicht, wie aus reinem Freundschaftsgefühl ließ sie ihn gierig ihren Athem trinken. Und als er, von diesem Feuer durchglüht, sie mit Gewalt sich zu eigen zu machen versuchte, hatte sie geweint und sich gewehrt. Jedesmal wiederholte sie dieselben Gründe. Warum wollte er ihr so vielen Kummer machen? Es erschien ihr so süß, sich zu lieben ohne jede geschlechtliche Annäherung! Genothzüchtigt im Alter von sechzehn Jahren durch die Sinnlichkeit jenes Greises, dessen blutiges Gespenst sie noch verfolgte, vergewaltigt später durch die brutalen Neigungen ihres Gatten, hatte sie sich trotzdem eine kindliche Keuschheit, eine Jungfräulichkeit, die ganze holde Scham einer sich selbst nicht kennenden Leidenschaft bewahrt. Was ihr an Jacques gefiel, war sein Zartgefühl, sein Gehorsam, nicht seine Hände gleich über alle Stellen ihres Körpers gleiten zu lassen, sobald sie ihre so schwachen Hände in die seinen legte. Sie liebte wirklich zum ersten Male und eben deshalb gab sie sich ihm nicht hin; wäre sie ihm sogleich dasselbe gewesen, was sie jenen beiden Anderen war, so hätte ihm das sofort ihre Liebe gekostet. Ihr unbewußtes Verlangen ging darauf hinaus, dieses entzückende Gefühl in alle Ewigkeit zu verlängern, wieder jung zu werden und einen lieben Freund zu haben, wie man ihm zu fünfzehn Jahren, heimlich hinter den Thüren, die vollen Lippen zum Kusse reicht. Er, seines Fiebers jetzt ledig, forderte nichts und gab sich gern diesem aufgespalten, wollüstigen Glücke hin. Genau so wie sie schien auch er zu den Gefühlen der Kindheit zurückzukehren, mit der Liebe erst zu beginnen, die bis dahin für ihn ein Gefühl des Schreckens gewesen war. Er allerdings zeigte sich gehorsam und zog seine Hände zurück, sobald sie sie sanft bei Seite schob, weil eine geheime Furcht seine Zärtlichkeit zügelte, weil er fürchtete, das Verlangen nach ihrem Besitz nicht unterscheiden zu können von seiner einstigen Mordbegier. Diese, die doch getödtet hatte, war der Traum seiner fleischlichen Lust. Seine Heilung aber wurde ihm mit jedem neuen Tage zu einer
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