Die Bestie im Menschen
Neuem suchte er und zog das Portemonnaie mit den dreihundert Franken in Gold aus dem Loch. Als er die Leiste wieder an Ort und Stelle gebracht hatte, schleuderte er ihr mit zusammengepreßten Zähnen die Worte in’s Gesicht:
»Du langweilst mich, ich thue, was ich will. Frage ich Dich, was Du noch jetzt in Paris zu suchen hast?«
Er zuckte heftig mit den Achseln und ging wieder in das Café. Das Licht ließ er am Boden stehen.
Séverine hob es auf und legte sich, halb erfroren, wieder zu Bett. Sie ließ das Licht brennen, denn sie konnte nicht wieder einschlafen und erwartete, mehr und mehr sich erwärmend, mit weit geöffneten Äugen die Abgangszeit des Eilzuges. Jetzt wußte sie es, er litt an zunehmendem innerlichen Verfall, den das Verbrechen ihm einfiltrirt zu haben schien. Das Verbrechen war es, welches diesen Mann zersetzte und jedes Band zwischen ihnen zerrissen hatte. Roubaud wußte offenbar Alles.
Siebentes Kapitel
Als an jenem Freitag die Passagiere, welche von Havre aus den Eilzug um sechs Uhr vierzig Minuten nach Paris benutzen wollten, erwachten, waren sie nicht wenig überrascht: seit Mitternacht fiel der Schnee in dichten, großen Flocken; in den Straßen lag er bereits dreißig Centimeter hoch.
In der bedeckten Halle dampfte und keuchte bereits die Lison vor drei Waggons zweiter und vier erster Klasse. Als um halb sechs Jacques und Pecqueux in das Depot gekommen waren, brummten sie nicht wenig ob dieses hartnäckigen Schneefalles vom düsteren Himmel. Während sie jetzt auf ihrem Posten das Abfahrtssignal erwarteten, schweiften ihre Augen über das gähnende Portal der Halle hinaus und beobachteten das lautlose und endlose Fallen der Flocken in der Finsterniß.
»Der Teufel soll mich holen, wenn man auch nur ein Signal sieht,« meinte der Lokomotivführer.
»Wenn wir nur noch durchkommen,« sagte der Heizer.
Roubaud stand mit seiner Laterne auf dem Bahnsteig. Er hatte auf die Minute genau seinen Dienst angetreten. Manchmal schlossen sich seine von der Müdigkeit gequälten Augenlider, doch seine Wachsamkeit schlief nicht ein. Jacques hatte ihn gefragt, ob er etwas über die Passirbarkeit der Geleise wisse. Roubaud war deshalb auf ihn zugetreten, hatte ihm die Hand gedrückt und gesagt, daß bis jetzt noch keine Depesche da wäre. Als Séverine, in einen großen Mantel gehüllt, erschien, führte er sie selbst zu einem Koupee erster Klasse und half ihr dort sich einzurichten. Jedenfallswar ihm der besorgt zärtliche Blick der beiden Liebenden nicht entgangen, doch ließ er sich nichts merken. Er machte seiner Frau nur Vorwürfe, daß sie bei solchem Wetter die Reise unternehmen wolle und rieth ihr, sie aufzuschieben.
Warm eingehüllt und mit Gepäckstücken beladen drängten sich die Reisenden in der fürchterlichen Kälte dieses Morgens. Selbst der Schnee unter dem Schuhwerk thaute nicht ab. Die Waggonthüren schlossen sich schnell, ein Jeder verbarrikadirte sich in seinem Koupee. Der Perron, von dem matten Licht einiger Gaslaternen schlecht beleuchtet, blieb leer; nur die am Bug der Lokomotive angebrachte Signallaterne flammte wie ein Riesenauge und warf ihren Feuerbrand durch das Dunkel in die Weite.
Roubaud hielt jetzt seine Laterne hoch und gab das Signal. Der Zugführer pfiff und Jacques antwortete, nachdem er den Regulator geöffnet und die kleine Kurbel des Fahrregulators gedreht hatte. Man fuhr ab. Der Unter-Inspector blickte noch eine kleine Weile gelassen dem in dem Unwetter verschwindenden Zuge nach.
»Aufgepaßt,« sagte Jacques zu Pecqueux. »Keine Dummheiten heute!«
Er hatte wohl bemerkt, daß sein Gefährte vor Schlafsucht umzusinken drohte, wahrscheinlich in Folge einer Orgie am verflossenen Abend.
»O, es hat damit keine Gefahr,« stotterte der Heizer.
Gleich nach dem Verlassen der bedeckten Halle steckten beide Männer in dem Schneefall. Der Wind pfiff von Osten, die Lokomotive wurde also direct von vorn von dem Sturme gepeitscht. Da sie unter dem Schutzdach standen, in dicken wollenen Kleidern steckten und ihre Augen durch Brillen geschützt waren, hatten sie zunächst nicht viel zu leiden. Aber das Signallicht der Lokomotive war jetzt in der Dunkelheit durch die bleichen, dagegen anstürmenden Schneemassen wie fortgeweht. Während sich die Geleise sonst zwei bis drei Meter weit erhellten, schimmerten sie jetzt in einem milchigen Nebel, der traumhaft die Dinge nur in der allernächsten Nähe erkennen ließ. Die Unruhe des Lokomotivführers stieg auf den Gipfel,
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