Die Bestie von Florenz
Eindruck, als wollte er etwas verbergen; er wirkte argwöhnisch und angespannt. Sie erfuhren nichts, was ihnen weitergeholfen hätte. Welches Geheimnis der Mann auch hüten mochte, er hütete es so gewissenhaft, dass er es vermutlich mit ins Grab nehmen würde.
Stefano Mele war in einem hässlichen weißen Gebäude auf einer flachen Ebene in der Nähe der Etsch untergebracht, außerhalb der romantischen Stadt Verona. Er lebte dort zusammen mit anderen ehemaligen Häftlingen, die nach Verbüßung ihrer Schuld nichts mehr hatten, wohin sie zurückkehren konnten, keine Familie, keine Chance auf eine Arbeitsstelle. Der Priester, der diese wohltätige Einrichtung leitete, sah sich plötzlich neben seinen anderen dringenden Sorgen mit der Pflicht belastet, den kleinen Sarden vor ganzen Rudeln gieriger Journalisten zu beschützen. Jeder echte Journalist in ganz Italien wollte ein Interview mit Mele; der Priester war ebenso fest entschlossen, die Meute von ihm fernzuhalten.
Spezi, der Bestiologe der Nazione , ließ sich nicht so leicht abwimmeln wie der Rest. Eines Tages erschien er mit einem Dokumentarfilmer unter dem Vorwand, einen Fernsehbericht über das gute Werk der Einrichtung drehen zu wollen. Nach einem schmeichelhaften Interview mit dem Priester und einer Reihe vorgeblicher Interviews mit diversen Schützlingen saßen sie schließlich Stefano Mele gegenüber.
Der erste Eindruck war enttäuschend. Der Sarde war zwar nicht alt, ging aber mit winzigen, nervösen Schritten im Raum auf und ab, so steifbeinig, als wollte er jeden Moment umfallen. Einen Stuhl vom Fleck zu bewegen war für ihn eine beinahe übermenschliche Aufgabe. Ein ausdrucksloses Lächeln, das starr auf seinem Gesicht lag, zeigte einen Friedhof verfaulter Zähne. So stellte man sich jedenfalls nicht den kaltblütigen Mörder vor, der fünfzehn Jahre zuvor zwei Menschen gewissenlos umgebracht hatte.
Das Interview war anfangs schwierig. Mele war wachsam und argwöhnisch. Doch allmählich entspannte er sich und wurde mit den beiden Dokumentarfilmern warm, offenbar froh, endlich mitfühlende Zuhörer gefunden zu haben, denen er sich anvertrauen konnte. Er lud die beiden sogar in sein Zimmer ein, wo er ihnen alte Fotos seiner »Alten« (so nannte er seine ermordete Frau Barbara) und ihres gemeinsamen Sohnes Natalino zeigte.
Doch jedes Mal, wenn Spezi vorsichtig das Verbrechen von 1968 ansprach, wich Mele aus. Seine Antworten waren lang und weitschweifig, und er sagte anscheinend einfach das, was ihm als Erstes einfiel. Es sah hoffnungslos aus.
Am Ende sagte er etwas Merkwürdiges. »Sie müssen herausfinden, wo die Pistole ist, sonst wird es noch mehr Morde geben … Sie werden weiterhin töten … Sie werden weitermachen …«
Als Spezi ging, gab Mele ihm ein Geschenk mit: eine Postkarte von dem Haus mit dem Balkon in Verona, unter dem Romeo angeblich Julia seine Liebe gestanden hatte. »Nehmen Sie sie«, sagte Mele. »Ich bin der ›Pärchenmann‹, und das ist das berühmteste Pärchen auf der Welt.«
Sie werden weitermachen … Erst nachdem er gegangen war, fiel Spezi dieser seltsame Gebrauch des Plurals auf. Mele hatte wiederholt »sie« gesagt, als spräche er von mehr als einer Bestie. Wie kam er auf die Idee, dass es mehrere sein könnten? Das schien darauf hinzudeuten, dass er nicht allein gewesen war, als seine Frau und ihr Liebhaber ermordet worden waren. Er hatte Komplizen gehabt. Mele glaubte offenbar, dass die Komplizen weiterhin Pärchen ermordeten.
Da begriff Spezi etwas, das auch die Polizei bereits erkannt hatte: Der Mord von 1968 war kein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen. Eine Gruppe hatte diesen Mord begangen, eine Sippe. Mele war am Tatort nicht allein gewesen: Er hatte Komplizen.
Waren einer oder mehrere dieser Komplizen danach zur Bestie von Florenz geworden?
Die Polizei stellte Nachforschungen an, wer in jener schicksalhaften Nacht bei Mele gewesen sein könnte. Diese Ermittlung drang tief in den seltsamen, brutalen sardischen Clan vor, dem Mele angehörte. Sie wurde als Pista Sarda bekannt, die Sardinien-Spur.
Kapitel 8
Die Verfolgung der Sardinien-Spur erhellte eine merkwürdige und fast vergessene Episode der italienischen Geschichte, die massenhafte Emigration von der Insel Sardinien auf das italienische Festland in den sechziger Jahren. Viele dieser Umsiedler waren in der Toskana gelandet und hatten den Charakter der Provinz dauerhaft verändert.
Ins Italien der frühen Sechziger zurückzukehren ist eine sehr
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