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Die Bestie von Florenz

Die Bestie von Florenz

Titel: Die Bestie von Florenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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viel weitere und tiefere Reise als ein Rückblick über bloße fünfundvierzig Jahre. Italien war damals ein anderes Land, eine Welt, von der heute nichts mehr geblieben ist.
    Das vereinte Land war 1871 geschaffen worden, zusammengeschustert aus diversen Großherzogtümern und Lehnsgütern, uralten Ländern, die mehr schlecht als recht zu einer neuen Nation zusammengenäht wurden. Die Einwohner dieses neuen Landes sprachen etwa sechshundert Sprachen und Dialekte. Der neue italienische Staat entschied sich für den Florentiner Dialekt als das offizielle »Italienisch«, obwohl nur zwei Prozent der Bevölkerung ihn tatsächlich sprachen. (Der florentinische wurde dem römischen und dem neapolitanischen Dialekt vorgezogen, weil er die Sprache Dantes war.) Noch 1960 beherrschte weniger als die Hälfte der Einwohner die offizielle Landessprache. Das Land war arm und isoliert, es hatte sich noch nicht von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt, und die Menschen litten unter Hunger und Malaria. Nur wenige Italiener hatten zu Hause fließendes Wasser oder einen Stromanschluss oder besaßen gar ein Auto. Das große industrielle und wirtschaftliche Wunder des modernen Italien nahm gerade erst seinen Anfang.
    1960 war das ärmste, rückständigste Gebiet in ganz Italien das kahle, von der Sonne ausgedörrte, gebirgige Landesinnere von Sardinien.
    Dies war ein Sardinien lange vor der Costa Smeralda, den Häfen und Yachtclubs, den reichen Arabern, Golfplätzen und Millionen-Dollar-Villen. Die isolierte Kultur im Landesinneren hatte dem Meer den Rücken gewandt. Die Sarden fürchteten das Meer von alters her, weil es ihnen über Jahrhunderte hinweg nur Tod, Plünderung und Vergewaltigung gebracht hatte. »Wer übers Meer kommt, ist ein Räuber«, lautete ein altes sardisches Sprichwort. Über das Meer kamen die Pisaner auf ihren Schiffen mit dem christlichen Kreuz, um die Wälder Sardiniens abzuholzen und daraus ihre Flotte zu bauen. Über das Meer kamen die schwarzen Feluken arabischer Piraten, die Frauen und Kinder verschleppten. Und viele Jahrhunderte zuvor – so erzählte die Legende – erhob sich ebenfalls aus dem Meer eine gigantische Flutwelle, die alle Orte an der Küste auslöschte und die Inselbewohner auf ewig in die Berge vertrieb.
    Die Polizei und die Carabinieri, die der Pista Sarda , der Sardinien-Spur, folgen sollten, reisten also in jene Berge, reisten durch die Zeit zurück in das Dorf Villacidro, woher viele Sarden aus Meles Sippe stammten.
    1960 sprach kaum jemand auf Sardinien Italienisch, sondern vielmehr eine ganz eigene Sprache, Logudoresisch, das als älteste und am wenigsten verfremdete der romanischen Sprachen gilt. Die Sarden lebten in völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesetz, das ihnen willkürlich von sos italianos aufgedrückt wurde, wie sie die Leute vom Festland nannten. Sie gehorchten ihrem eigenen ungeschriebenen Gesetz, dem Gesetz der Barbagia, das aus der uralten Region in der Mitte Sardiniens stammt – La Barbagia, eine der wildesten und am wenigsten bevölkerten Regionen Europas.
    Das Herz der Regeln der Barbagia oder Hirtenehre bildet ein Mann, der balente genannt wird, der listige Gesetzlose, ein raffinierter, geschickter und mutiger Mann, der seine Interessen durchsetzt. Diebstahl, vor allem der Diebstahl von Vieh eines anderen Stammes, war eine vielgepriesene Leistung, denn abgesehen vom reinen Gewinn galt er als Heldentat, als Akt der balentia . Der Dieb bewies durch den Diebstahl sein Geschick und seine Überlegenheit, während sein Gegner den gerechten Preis dafür bezahlte, dass er unfähig war, auf seinen eigenen Besitz und seine Herden aufzupassen. Entführung und sogar Mord galten nach ähnlichen Regeln als gerechtfertigt. Der balente wurde gefürchtet und geachtet.
    Sarden, vor allem Hirten, die fast ihr ganzes Leben in nomadischer Isolation zubrachten, verachteten den italienischen Staat als feindlichen Besatzer. Wenn ein Hirte gemäß den Regeln der balentia handelte und dabei jene Gesetze überschritt, die »Ausländer« (Italiener) ihm aufoktroyiert hatten, dann entzog er sich der Schmach einer Gefängnisstrafe und wurde zum Gesetzlosen. Er schloss sich Gruppen anderer flüchtiger Verbrecher und Banditen an, die in den Bergen hausten und Dörfer überfielen. Sogar als Gesetzloser konnte er weiterhin heimlich in seiner Gemeinschaft leben, wo man ihm Schutz bot, ihn willkommen hieß und ihm Bewunderung zollte. Die Banditen ihrerseits teilten ihre Beute mit

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