Die Bestie von Florenz
Richter Mario Rotella, wuchs immer weiter.
1985 brachte Rotella Stefano Mele unter einer Scheinbelastung kurzzeitig ins Gefängnis, ein letzter Versuch, ihn zum Reden zu bringen. Dieser Schachzug hatte einen Chor von Beschwerden zur Folge, Rotella quäle völlig nutzlos einen gebrochenen alten Mann, dessen wirres Gerede den Ermittlungen und den Menschen, die er beschuldigt hatte, bereits unermesslichen Schaden zugefügt habe. Rotella fand sich plötzlich im Abseits wieder, isoliert, exponiert und ständigen Attacken der Presse ausgeliefert. Die größte Tageszeitung von Sardinien, die Unione Sarda , fiel regelmäßig über ihn her. »Sie tun es immer wieder«, schrieb die Zeitung. »Jedes Mal, wenn die Ermittlungen gegen die Bestie von Florenz im Schlamm stecken bleiben, lassen sie die sogenannte Sardinien-Spur wieder aufleben.« Verbände toskanischer Bürger sardischer Abstammung griffen auch das Thema Rassismus auf, und ein Aufschrei der Empörung scholl den Ermittlern von allen Seiten entgegen. Rotellas umständliche Art zu reden machte alles nur noch schlimmer.
Doch Rotella besaß als Ermittlungsrichter in dem Fall beträchtliche Autorität und Macht, und er ließ sich nicht beirren. Seine Maßnahme, Stefano Mele kurzzeitig festzunehmen und erneut zu befragen, wurde zwar weithin kritisiert, löste aber endlich eines der zentralen Rätsel in dem Fall: weshalb Stefano Salvatore Vinci so lange gedeckt und dafür sogar vierzehn Jahre Haft auf sich genommen hatte. Warum hatte Mele sich so widerspruchslos damit abgefunden, dass ihm die Morde an Barbara Locci und Antonio Lo Bianco allein in die Schuhe geschoben wurden, obwohl das Verbrechen von Salvatore geplant, vorbereitet und begangen worden war? Warum hatte er während des Prozesses geschwiegen, als Salvatore die Dreistigkeit besessen hatte, im Zeugenstand den Verlobungsring von Stefanos toter Frau zu tragen? Warum weigerte sich Mele selbst nach vierzehn Jahren im Gefängnis, den Ermittlern zu sagen, dass Salvatore einer seiner Komplizen gewesen war?
Mele brach endlich zusammen und gestand, dass all das aus Scham geschehen war. Er hatte sich an Salvatore Vincis Sexspielchen beteiligt und es am liebsten mit Männern getrieben, vor allem mit Salvatore selbst. Dies war das schreckliche Geheimnis, mit dem Salvatore Vinci ihn fast zwanzig Jahre lang zum Schweigen gezwungen hatte. Dadurch hatte Vinci damals, 1968, Mele mit einem einzigen scharfen Blick dazu gebracht, sich zu winden und in Tränen auszubrechen. Er hatte damit gedroht, ihn als Homosexuellen bloßzustellen.
Der Doppelmord an den französischen Touristen auf der Scopeti-Lichtung sollte das letzte bekannte Verbrechen sein, das die Bestie von Florenz beging. Allerdings würde es noch eine Weile dauern, bis die Florentiner begriffen, dass die Mordserie, die sie so lange in Angst und Schrecken versetzt hatte, nun zu Ende war.
Die Ermittlung fing jetzt jedoch erst richtig an. Im Lauf der Zeit würde sie selbst zu einer Bestie werden, die alles verschlang, was ihr in den Weg kam, und sich an den unschuldigen Leben mästete, die sie zerstörte.
1985 war erst der Anfang.
Kapitel 22
Ende 1985 war Richter Mario Rotella fest davon überzeugt, dass Salvatore Vinci die Bestie von Florenz sei. Während er die Akten über Vinci studierte, wurde er immer frustrierter ob der vielen verpassten Gelegenheiten, ihn festzunageln. Beispielsweise war Vincis Haus unmittelbar nach dem Mord von 1984 in Vicchio durchsucht worden, und die Polizei hatte einen Lumpen in seinem Schlafzimmer gefunden, in eine Frauen-Umhängetasche aus Stroh gestopft, befleckt mit Pulverspuren und Blutstropfen. Achtunddreißig Blutstropfen. Rotella sah in den Unterlagen nach und stellte fest, dass der Lappen nie genauer analysiert worden war. Er wurde furchtbar wütend und prangerte diese Begebenheit als Musterbeispiel für die Inkompetenz der Strafverfolger an. Der Ermittler, der für dieses Beweisstück zuständig war, versuchte zu erklären: Es sei unvorstellbar, dass ein Mann, der bereits wusste, dass er auf der Liste der Verdächtigen stand, ein so offensichtliches Indiz in seinem Zimmer herumliegen lassen würde.
Rotella verlangte eine Untersuchung des Lappens. Das Labor, dem er geschickt wurde, konnte weder feststellen, ob das Blut von einer oder zwei Blutgruppen stammte, noch konnten die Experten das Blut auf dem Lappen mit dem der Opfer des Verbrechens von 1984 vergleichen, weil die Ermittler unfasslicherweise keine Blutproben der Opfer
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