Die Bestie von Florenz
genommen hatten. Der Lumpen wurde zur genaueren Analyse nach Großbritannien geschickt, doch auch dieses Labor vermeldete, die Blutspuren seien unrettbar verdorben. (Heutzutage könnte man mit Hilfe eines Gentests doch noch wichtige Hinweise von dem Lappen erhoffen, aber bisher wissen wir von keinerlei Plänen, ihn untersuchen zu lassen.)
Rotella hatte einen weiteren Grund, frustriert zu sein. Über ein Jahr lang hatten die Carabinieri Salvatore Vinci scharf überwacht, vor allem an den Wochenenden. Da Salvatore wusste, dass er beobachtet wurde, hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, hin und wieder bei Rot über Ampeln zu fahren oder seine Verfolger durch andere Tricks abzuschütteln. Allerdings hatten die Carabinieri die Überwachung unerklärlicherweise ausgerechnet an dem Wochenende, als der Doppelmord an der Via Scopeti verübt wurde, abgebrochen. Vinci hatte plötzlich gehen können, wohin er wollte, ohne beobachtet zu werden. Wenn die Überwachung fortgesetzt worden wäre, meinte Rotella, wäre der Doppelmord womöglich gar nicht passiert.
Ende 1985 ließ Rotella Salvatore Vinci einen avviso di garanzia zustellen, einen Bescheid darüber, dass gegen ihn wegen Mordverdachts in 16 Fällen ermittelt wurde – sämtliche Morde von 1968 bis 1985.
Währenddessen gingen dem leitenden Staatsanwalt, Piero Luigi Vigna, der diensteifrige, methodische Rotella und seine besessene Verfolgung der Sardinien-Spur immer mehr auf die Nerven. Vigna und die Polizei wollten die Ermittlungen endlich ganz neu aufrollen, und sie warteten still darauf, dass Rotella einen Fehler beging.
Am 11. Juni 1986 ordnete Mario Rotella die Festnahme von Salvatore Vinci wegen Mordverdachts an. Zur allgemeinen Überraschung ging es dabei nicht um die Bestien-Fälle, sondern um den Mord an seiner Frau Barbarina am 14. Januar 1961 in Villacidro. Rotellas Strategie bestand darin, Vinci in einem Fall, der anscheinend einfacher und leicht zu beweisen war, des Mordes zu überführen, und von diesem Ansatzpunkt aus in aller Ruhe nachzuweisen, dass er die Bestie von Florenz war.
Während Salvatore Vinci zwei Jahre lang im Gefängnis saß, bereitete Rotella systematisch die Anklage wegen Mordes an seiner siebzehnjährigen Ehefrau vor. Die Bestie mordete nicht wieder, was Rotella noch mehr davon überzeugte, den richtigen Mann gefasst zu haben.
Salvatore Vincis Prozess wegen des Mordes an seiner Frau begann am 12. April 1988 in Cagliari, der Hauptstadt von Sardinien. Spezi berichtete für La Nazione darüber.
Vincis Verhalten auf der Anklagebank war erstaunlich. Er stand die ganze Zeit über und hielt die Gitterstäbe des Käfigs, in dem er eingeschlossen war, mit den Fäusten gepackt. Er beantwortete die Fragen der Richter sehr sorgfältig mit höflicher, hoher, beinahe fistelnder Stimme. Während der Pausen unterhielt er sich mit Spezi und den anderen Journalisten über Themen wie sexuelle Freiheit und die Rolle der richterlichen Kontrolle des Freiheitsentzugs in einem Strafprozess.
Sein Sohn Antonio, der damals etwa siebenundzwanzig Jahre alt war, wurde in den Gerichtssaal geholt, um gegen seinen Vater auszusagen. Er verbüßte ebenfalls eine Haftstrafe in einer anderen Sache und wurde in Handschellen hereingeführt; allen fiel seine starke, extrem angespannte Präsenz auf. Der junge Mann saß rechts von den Richtern, seinem Vater gegenüber, und nahm nicht ein einziges Mal die riesige schwarze Sonnenbrille ab, die seine Augen verdeckte. Er hielt die Lippen zusammengepresst, und seine Nasenflügel waren gebläht vor Hass. Die dunklen Brillengläser verbargen nicht, dass sein Gesicht die ganze Zeit über starr auf seinen Vater gerichtet war und er sich keinen Moment lang anderswo hinwandte. So verharrten die beiden stundenlang, und im Saal knisterte es von ihrer angespannten, stummen Interaktion.
Antonio Vinci weigerte sich, ein Wort zu sagen. Er starrte seinen Vater nur an. Später erzählte er Spezi, wenn in dem Wagen, der sie wieder weggebracht hatte, nicht so viele Carabinieri zwischen ihm und seinem Vater gesessen hätten, »hätte ich ihn erwürgt«.
Der Prozess nahm einen katastrophalen Ausgang. Salvatore Vinci wurde völlig unerwartet freigesprochen. Das Verbrechen lag so lange zurück, Zeugen waren inzwischen verstorben, andere konnten sich nicht mehr erinnern, Beweisstücke waren verschwunden, und zu wenig konnte stichhaltig nachgewiesen werden.
Vinci verließ den Gerichtssaal als freier Mann. Auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude
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