Die Bestie von Florenz
Haus denken. Eines Tages im Herbst, nach einem frustrierenden Kampf mit dem Masaccio-Roman, verließ ich das Haus und stieg durch den Hain hinauf zu der Wiese, um mir die Stelle selbst anzusehen. Von der idyllischen kleinen Wiese hatte man einen weiten Blick über die Florentiner Hügel, die sich nach Süden zu einem Höhenzug hin erstreckten. Die frische Herbstluft roch nach zerdrückter Minze und brennendem Gras. Manche Leute behaupten, dass an einem solchen Ort das Böse überdauert wie eine Art Infektion, aber ich spürte gar nichts. Dieser Ort war weder gut noch böse. Ich trieb mich dort herum in der vergeblichen Hoffnung, irgendeinen Schimmer einer Ahnung zu erhaschen. Beinahe gegen meinen Willen begann ich, den Tatort zu rekonstruieren, überlegte mir, wo der VW-Bus gestanden haben musste, stellte mir den leicht scheppernden Klang des Soundtracks von Blade Runner vor, der immer wieder über die grausige Szene hallte.
Ich holte tief Luft. Im Weinberg unseres Nachbarn unterhalb der Wiese war die vendemmia , die Weinlese, in vollem Gange, und ich konnte sehen, wie Leute an den Reihen der Weinreben auf und ab gingen und Berge von Trauben auf die Ladefläche eines motorisierten Dreirads luden. Ich schloss die Augen und lauschte den Geräuschen dieses Ortes – ein Hahn krähte, ferne Kirchenglocken läuteten, ein Hund bellte, und irgendwo in der Nähe rief eine Frau nach ihren Kindern.
Die Geschichte der Bestie von Florenz ergriff allmählich Besitz von mir.
Kapitel 31
Spezi und ich wurden Freunde. Etwa drei Monate nach unserem ersten Treffen konnte ich mich immer noch nicht von der Geschichte um die Bestie losreißen und schlug ihm vor, gemeinsam einen Artikel darüber zu schreiben, für eine amerikanische Wochenzeitung. Ich hatte hin und wieder Beiträge im New Yorker veröffentlicht, also rief ich meinen Redakteur dort an und unterbreitete ihm die Idee. Wir bekamen den Auftrag.
Doch ehe ich ein Wort schreiben konnte, brauchte ich einen Crashkurs vom »Bestiologen«. Ein paar Tage die Woche stopfte ich meinen Laptop in einen Rucksack, setzte mich aufs Fahrrad und fuhr die zehn Kilometer bis zu Spezis Wohnung. Der letzte Kilometer war eine mörderische Steigung durch Olivenhaine mit alten, knotigen Bäumen. Die Wohnung, in der er mit seiner belgischen Ehefrau Myriam und ihrer gemeinsamen Tochter lebte, nahm den obersten Stock der alten Villa ein. Neben Wohn- und Esszimmer lag eine Terrasse mit Blick über Florenz. Spezi arbeitete in einem kleinen Zimmer unter dem Dach, vollgestopft mit Büchern, Unterlagen, Zeichnungen und Fotos.
Wenn ich ankam, fand ich Spezi meist im Esszimmer vor, wie immer mit einer Gauloises zwischen den Lippen. Rauchschwaden trieben durch die Luft, Unterlagen und Fotos waren über den Tisch ausgebreitet. Während wir arbeiteten, versorgte Myriam uns mit einem ständigen Strom von Espresso in winzigen Tassen. Spezi räumte immer die Fotos von den Tatorten weg, wenn sie hereinkam.
Mario Spezis erste Aufgabe bestand darin, mich mit dem Fall vertraut zu machen. Er ging die ganze Geschichte chronologisch und in allen Einzelheiten durch und nahm hin und wieder ein Blatt Papier oder ein Foto von dem Haufen, um mir etwas zu zeigen. Wir arbeiteten ausschließlich auf Italienisch, da Spezi kaum Englisch sprach und ich obendrein fest entschlossen war, die Sprache besser zu lernen. Ich tippte wie ein Wilder meine Notizen in den Laptop, während er sprach.
»Nett, nicht?«, schloss er oft, nachdem er mir ein besonders schauderhaftes Beispiel ermittlerischer Unfähigkeit geschildert hatte.
»Si, professore« , antwortete ich stets.
Seine Meinung zu dem Fall war nicht kompliziert. Er hatte für all die Verschwörungstheorien, vermeintlichen satanischen Rituale, verborgenen Hintermänner und mittelalterlichen Geheimbünde nichts als Verachtung übrig. Die einfachste und offensichtlichste Erklärung, fand er, war auch die richtige: Die Bestie von Florenz war ein einsamer Psychopath, der Pärchen ermordete, um seine krankhafte Lust zu befriedigen.
»Der Schlüssel zur Identifizierung des Täters«, erklärte Spezi wiederholt, »ist die Waffe, die bei dem Sippenmord von 1968 benutzt wurde. Wer die Waffe aufspürt, findet auch die Bestie.«
Im April, als die Weinberge die Hügel mit frischen grünen Streifen überzogen, brachte Spezi mich an die Stelle außerhalb von Vicchio, wo 1984 Pia Rontini und Claudio Stefanacci ermordet worden waren. Vicchio liegt nördlich von Florenz in einer Gegend, die
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