Die Bestie von Florenz
meine Hand. »Es tut mir ja so furchtbar leid, Mr. Harris!«, rief er aus. »Wir wussten ja nicht, dass Sie im Hause sind! Niemand hat uns etwas gesagt! Ich bitte vielmals um Verzeihung wegen der Karten, ein bedauerliches Missverständnis.«
Mr. Harris?
»Mr. Harris«, erklärte die Ladeninhaberin hochtrabend, »reist gern unauffällig, ohne großes Gefolge.«
»Aber natürlich!«, rief der Direktor. »Selbstverständlich!«
Ich starrte ihn erstaunt an. Die Ladenbesitzerin warf mir einen warnenden Blick zu, als wollte sie sagen: Ich habe Sie bis hierher gebracht, vermasseln Sie es bloß nicht.
»Wir haben glücklicherweise noch ein paar Karten in Reserve«, fuhr der Direktor fort, »und ich hoffe sehr, dass Sie sie als Wiedergutmachung annehmen, als kleine Aufmerksamkeit des Maggio Musicale Fiorentino!« Er zückte zwei Karten.
Christine fasste sich schneller als ich. »Wie freundlich von Ihnen.« Sie riss dem Mann die Karten aus der Hand, hakte sich energisch bei mir unter und sagte: »Komm mit, Tom .«
»Ja, natürlich«, nuschelte ich, entsetzlich verlegen über dieses Täuschungsmanöver. »Sehr freundlich. Was sind wir schuldig …?«
» Niente, niente! Nichts! Es ist uns ein Vergnügen, Mr. Harris! Und darf ich Ihnen noch sagen, dass Das Schweigen der Lämmer einer der besten – einer der allerbesten – Filme war, die ich je gesehen habe. Ganz Florenz wartet gespannt auf den Start von Hannibal .«
Logenplätze Mitte vorn, die besten im ganzen Haus.
Mit dem Fahrrad oder dem Auto war es von unserem Bauernhaus in Giogoli nicht weit nach Florenz. Durch die Porta Romana, das südliche Tor zur Altstadt, gelangte man in einen Irrgarten krummer Gassen und mittelalterlicher Häuser. Das ist Oltrarno, der am besten erhaltene Teil der Altstadt. Während meiner Erkundungstouren sah ich dort oft eine seltsame Gestalt bei ihrem Nachmittagsspaziergang durch die schmalen, mittelalterlichen Sträßchen. Die winzige, uralte Dame war klapperdürr, herausgeputzt mit Pelzen und Diamanten; sie trug Rouge auf den Wangen, korallenroten Lippenstift und einen altmodischen kleinen Hut mit einem Perlennetz auf dem kleinen Kopf. Vollkommen sicher spazierte sie in ihren hochhackigen Schuhen über das tückische Kopfsteinpflaster, ohne je nach links oder rechts zu schauen. Bekannte grüßte sie mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung der Augen. Ich fand heraus, dass sie die Marchesa Frescobaldi war und damit einer uralten Florentiner Familie entstammte, der halb Oltrarno und dazu noch ein Großteil der Toskana gehörte – einer Familie, die Kreuzzüge finanziert und der Welt einen großen Komponisten geschenkt hatte.
Christine ging oft in den Gassen der Altstadt joggen, und eines Tages blieb sie stehen, um einen der prächtigsten Paläste in Florenz zu bewundern, den Palazzo Capponi, der wiederum der anderen großen Familie des Oltrarno gehörte – ja, einem der höchsten Adelsgeschlechter ganz Italiens. Die rostrote Renaissance-Fassade erstreckt sich über mehrere hundert Meter am Ufer des Arno entlang, während die grimmige, steinerne, mittelalterliche Rückseite an der Via de’Bardi, der Straße der Barden, verläuft. Während Christine das prachtvolle portone des Palastes anstarrte, kam eine Britin heraus und sprach sie an, und die beiden unterhielten sich. Die Frau arbeitete für die Familie Capponi, erzählte sie, und als sie von dem Buch erfuhr, das ich über Masaccio schreiben wollte, gab sie Christine ihre Karte und sagte, wir sollten Graf Niccolò Capponi aufsuchen, der ein Experte in florentinischer Geschichte sei. »Er ist sehr aufgeschlossen«, versicherte sie ihr.
Christine brachte die Karte mit nach Hause und gab sie mir. Ich steckte sie weg, weil ich es für unvorstellbar hielt, einfach so aus dem Blauen heraus bei dieser ehrfurchtgebietenden, berühmtesten Adelsfamilie von Florenz anzurufen, so aufgeschlossen sie auch sein mochte.
Das weitläufige Bauernhaus in Giogoli, in dem wir wohnten, stand hoch oben an einer Hügelflanke, die es sich mit Zypressen und Schirmkiefern teilte. Ich verwandelte eines der rückwärtigen Schlafzimmer in ein Arbeitszimmer, in dem ich meinen Roman schreiben wollte. Durch das einzige Fenster blickte man an drei Zypressen vorbei über das rote Ziegeldach eines Nachbarn hinweg auf die grünen Hügel der Toskana.
Auf das Herz des Bestien-Landes.
Nachdem ich von Spezi die Geschichte der Bestie von Florenz gehört hatte, musste ich wochenlang an den Mordschauplatz so nah an unserem
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