Die Bestie von Florenz
man das Mugello nennt, wo die Hügel steiler und wilder werden, je näher sie sich an die große Gebirgskette des Apennin heranschieben. Sardische Hirten waren in den frühen sechziger Jahren hierher eingewandert, um ihre Schafe auf den Almen zu weiden. Ihr Pecorino-Käse wurde hochgeschätzt, so hoch sogar, dass er schließlich zum typischen Käse der Toskana wurde.
Wir fuhren eine Landstraße entlang, die an einem rauschenden Bach verlief. Spezi war seit Jahren nicht mehr hier gewesen, und wir mussten mehrmals anhalten und uns orientieren, bis wir die Stelle fanden. Eine Abzweigung führte über einen grasbewachsenen Feldweg zu einem Ort, der in der Gegend als La Boschetta, das Wäldchen, bekannt ist. Wir parkten davor und betraten den Wald. Der Pfad endete am Fuß eines Hügels, auf dem Eichen wuchsen; auf einer Seite wich der Wald einem Feld, auf dem Heilpflanzen angebaut wurden. Ein uraltes Bauernhaus mit Ziegeldach stand ein paar hundert Meter weiter. Hinter Pappeln verborgen plätscherte ein schneller Bach ins Tal unter uns hinab. Hinter dem Bauernhaus stieg das Land wieder an, Hügel auf Hügel erstreckten sich bis zu den blauen Bergen. Smaragdgrüne Weiden schimmerten auf den gerodeten unteren Hängen der Hügel – Weiden, auf denen der Künstler Giotto als kleiner Junge im späten zwölften Jahrhundert Schafe gehütet, in den Tag geträumt und Bilder in die Erde gezeichnet hatte.
Der Pfad endete vor einem Schrein für die Opfer. Zwei weiße Kreuze standen auf einem Fleckchen Gras. Plastikblumen, in der Sonne verblasst, waren in zwei Gläsern davor aufgestellt. Auf den Armen der Kreuze lagen Münzen; die Stelle war zu einer Art Wallfahrtsort für junge Paare aus der Umgebung geworden, die hier Münzen ablegten, als Zeichen der unsterblichen Liebe. Die Sonne schien auf das Tal hinab, und der Duft von Blumen und frisch gemähtem Gras stieg auf. Schmetterlinge tanzten in der Luft, Vögel zwitscherten im Wald, und weiße Wattewölkchen eilten über den blauen Himmel.
Mit einer Gauloises in der Hand schilderte Mario mir die Situation in der Mordnacht, während ich mir Notizen machte. Er zeigte mir, wo der hellblaue Panda des Pärchens gestanden hatte und wo der Mörder sich im dichten Unterholz versteckt haben musste. Er zeigte mir, wo die Patronenhülsen gelegen hatten, die nach jedem Schuss ausgeworfen wurden und damit die Bewegungen des Täters und die Reihenfolge der Schüsse nachzeichneten. Der Körper des jungen Mannes war auf dem Rücksitz gefunden worden, in beinahe fötaler Haltung, als habe er sich zusammengekrümmt, um sich zu schützen. Der Mörder hatte ihn erschossen und ihm später mehrmals die Klinge zwischen die Rippen gestoßen, entweder um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich tot war, oder aus Verachtung.
»Es ist gegen zwanzig vor zehn passiert«, erzählte Spezi. Er deutete auf ein Feld auf der anderen Seite des Flüsschens. »Das wissen wir, weil ein Bauer, der nachts noch sein Feld pflügte, die Schüsse hörte. Er hielt sie für Fehlzündungen eines motorino .«
Ich folgte Mario auf die Lichtung. »Er hat den Leichnam des Mädchens vom Auto weggeschleift und hier hingelegt – vom Haus aus gut einsehbar. Eine absurd ungeschützte Stelle.« Er wies mit der Zigarette in der Hand auf das Bauernhaus, und kleine Rauchkringel stiegen in die Luft. »Es war ein grauenhafter Anblick, den ich nie vergessen werde. Pia lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, wie ans Kreuz genagelt. Ihre hellblauen Augen waren offen und starrten in den Himmel. Es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber mir fiel trotz allem auf, wie schön sie war.«
Wir standen vor dem Wäldchen, und die Bienen summten gemächlich von einer Blume zur nächsten. Ich war mit meinen Notizen fertig. Das Flüstern des Bachs stieg durch die Bäume auf. Auch hier war kein Nachhall des Bösen zu spüren. Im Gegenteil, der Ort fühlte sich friedvoll an, beinahe heilig.
Danach fuhren wir nach Vicchio. Der kleine Ort liegt zwischen üppigen Feldern am Fluss Sieve. Eine drei Meter hohe Bronzestatue von Giotto, Palette und Pinsel in den Händen, stand mitten auf dem gepflasterten Dorfplatz. Unter den umliegenden Geschäften war auch der kleine Haushaltswarenladen, der immer noch der Familie Stefanacci gehörte und in dem Claudio Stefanacci gearbeitet hatte.
Wir aßen in einer bescheidenen Trattoria in einer Seitenstraße zu Mittag und gingen dann ein Stück weiter die Straße entlang, um Winnie Rontini zu besuchen, die
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