Die Bestimmung - Letzte Entscheidung: Band 3 (German Edition)
stützt ihr Kinn in ihre verschränkten Hände. Auf einen ihrer Finger ist ein leerer Kreis tätowiert, der aussieht wie ein Ehering. » Weshalb bist du dann hier? «
Ich zögere, berühre die Ampulle in meiner Tasche. Wenn ich meine Mutter ansehe, erkenne ich, wie die Zeit sie aufgerieben hat wie ein altes Kleidungsstück, dünn und abgenutzt und ausgefranst. Aber dahinter sehe ich auch die Frau, die ich als Kind kannte, den Mund, der sich zum Lachen öffnete, die Augen, die vor Freude funkelten. Je länger ich sie jetzt betrachte, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass diese glückliche Frau niemals existiert hat. Diese Frau war nur ein blasses Abziehbild meiner wahren Mutter, betrachtet durch die selbstbezogenen Augen eines Kindes.
Ich setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber und lege die Ampulle mit dem Gedächtnisserum auf den Tisch zwischen uns.
» Ich bin hergekommen, um dich zu zwingen, das hier zu trinken « , sage ich.
Sie betrachtet die Ampulle, und ich meine, in ihren Augen Tränen glitzern zu sehen – oder ist es nur das Licht?
» Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, die totale Zerstörung zu verhindern « , sage ich. » Ich weiß, dass Marcus und Johanna mit ihren Leuten angreifen werden, und mir ist klar, dass du vor nichts zurückschrecken wirst, um sie daran zu hindern – auch nicht davor, das Todesserum einzusetzen. « Ich lege den Kopf auf die Seite. » Oder irre ich mich? «
» Nein « , antwortet sie. » Das Fraktionssystem ist der Ursprung allen Übels. Es darf nicht wiederhergestellt werden. Lieber würde ich uns alle zugrunde gehen lassen. «
Sie krallt ihre Finger um die Tischkante, die Knöchel ihrer Hand sind blutleer.
» Dass die Fraktionen der Ursprung allen Übels waren, liegt daran, dass es keine Möglichkeit gab, sich ihnen zu entziehen « , sage ich. » Sie haben uns vorgegaukelt, wir hätten eine Wahl, ohne uns tatsächlich eine Wahl zu lassen. Und dasselbe tust du, wenn du die Fraktionen abschaffst. Du sagst den Leuten: Geht und trefft eure eigene Entscheidungen. Aber wenn ihr euch für die Fraktionen entscheidet, werde ihr das bitter bereuen . «
» Wenn du so denkst, warum hast du es mir dann nicht gesagt? « , fragt sie mit lauter werdender Stimme. Aber sie weicht meinem Blick nicht aus, weicht mir nicht aus. » Warum hast du es mir nicht gesagt, statt mich zu verraten? «
» Weil ich Angst vor dir habe! « Die Worte platzen aus mir heraus und im selben Moment bereue ich sie schon – aber ich bin auch erleichtert, dass sie endlich ausgesprochen sind. Erleichtert, dass ich ehrlich zu meiner Mutter sein konnte, bevor ich sie dazu zwinge, sich selbst aufzugeben. » Du … du erinnerst mich an ihn! «
» Wage es ja nicht. « Sie ballt die Fäuste und spuckt mir ihre Worte ins Gesicht. » Wage es ja nicht. «
» Mir ist egal, ob du es hören willst oder nicht « , erwidere ich und stehe auf. » Er war ein Tyrann in unserem Haus, du bist eine Tyrannin in dieser Stadt – und du merkst nicht einmal, wie ähnlich ihr euch seid! «
» Deshalb hast du das hier mitgebracht? « Sie nimmt die Ampulle und sieht sie sich an. » Weil du es für den einzigen Ausweg hältst? Auf diese Weise willst du die Dinge in Ordnung bringen? «
» Ich … « Ich will sagen, dass es der einfachste Weg, der beste Weg, vielleicht der einzige Weg ist, ihr je wieder vertrauen zu können.
Wenn ich ihre Erinnerungen ausradiere, kann ich mir eine neue Mutter erschaffen. Aber …
Aber sie ist mehr als nur meine Mutter. Sie ist ein eigenständiger Mensch und sie gehört mir nicht.
Ich habe nicht das Recht, sie nach meinen Vorstellungen umzuformen, nur weil ich nicht damit klarkomme, wie sie ist.
» Nein « , erwidere ich. » Nein, ich bin gekommen, um dir eine Wahl zu geben. «
Plötzlich packt mich kalte Angst, meine Hände werden taub, mein Herz hämmert …
» Zuerst hatte ich vor, Marcus heute Abend einen Besuch abzustatten, aber dann habe ich mich dagegen entschieden. « Ich schlucke schwer. » Ich bin stattdessen zu dir gekommen, weil … weil ich daran glaube, dass zwischen uns noch Hoffnung auf eine Versöhnung besteht. Vielleicht nicht jetzt, auch nicht bald, aber irgendwann. Bei ihm ist es für jede Hoffnung, für jede Versöhnung zu spät. «
Sie sieht mich an, ihre Augen funkeln wild und sind zugleich voller Tränen.
» Ich schade mir selbst, wenn ich dir diese Wahl lasse « , sage ich. » Aber ich kann nicht anders. Entweder bleibst du an der Spitze der Fraktionslosen
Weitere Kostenlose Bücher