Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
sein, wer ich bin. Und ich bin garantiert niemand, der sich von Belanglosigkeiten wie Jungs oder Nahtoderfahrungen aufhalten lässt.
Der Gedanke entlockt mir ein Lachen. Ist es wirklich so, wie ich es mir einzureden versuche?
Das Zugsignal ertönt. Die Schienen führen um das Gelände der Ferox herum und dann weiter ins Nirgendwo. Wo beginnen sie? Wo enden sie? Wie sieht die Welt jenseits der Schienen aus?
Ich würde am liebsten nach Hause gehen, aber das ist ausgeschlossen. Eric hat uns am Besuchstag gewarnt, wir sollten uns unseren Eltern gegenüber nicht zu anhänglich zeigen. Jetzt einen Besuch zu Hause zu machen, wäre Verrat an den Ferox, und das kann ich mir nicht leisten. Aber Eric hat nicht gesagt, dass wir überhaupt niemanden aus anderen Fraktionen besuchen dürfen. Außerdem hat meine Mutter mir aufgetragen, mit Caleb zu reden.
Ich darf eigentlich nicht ohne Begleitung weggehen, aber ich kann nicht anders. Ich laufe immer schneller. Mit eng angelegten Armen spurte ich neben dem letzten Waggon her, bekomme den Türgriff zu fassen und werfe mich hinein. Ein wilder Schmerz jagt durch meinen wunden Körper.
Im Wagen lasse ich mich auf den Rücken fallen und schaue zu, wie die Gebäude der Ferox hinter mir in der Ferne verschwinden. Ich möchte nicht dorthin zurück. Wenn ich jetzt beschließen würde, alles hinzuwerfen und ohne Fraktion zu leben, wäre dies das Mutigste, was ich je getan habe. Aber heute fühle ich mich wie ein Feigling.
Die Luft streicht über mich hinweg und spielt um meine Finger. Ich lasse meine Hand aus dem Wagen hängen und fange den Wind ein. Ich kann nicht nach Hause, aber ich kann ein Stück Zuhause wiederfinden. In jeder Erinnerung an meine Kindheit kommt Caleb vor, er ist ein Teil von mir.
Der Zug bremst ab, als er die Innenstadt erreicht. Ich setze mich auf und sehe, wie sich die kleinen Gebäude im Näherkommen in große Gebäude verwandeln. Die Ken wohnen in großen Häusern aus Stein, von denen aus man das ganze Sumpfland überblicken kann. Ich halte mich am Einstiegsgriff fest und beuge mich hinaus, um zu sehen, wohin die Gleise führen. Sie führen hinunter auf die ebenerdige Straße, ehe sie ostwärts schwenken. Ich atme den Geruch nach nassem Asphalt und feuchter Luft ein.
Der Zug schwankt und verlangsamt seine Fahrt. Ich springe hinaus und lande so hart, dass meine Beine einknicken und ich ein paar Schritte laufen muss, um den Schwung abzufangen. Dann gehe ich mitten auf der Straße weiter nach Süden, Richtung Sumpf. So weit mein Auge reicht, erstreckt sich ödes Land, eine braune Ebene, die an den Horizont stößt.
Ich biege nach links ab. Die Häuser der Ken ragen vor mir auf, düster und wenig einladend. Wie soll ich Caleb hier finden?
Die Ken dokumentieren einfach alles, sie sind ganz verrückt danach, also muss es auch Listen der Initianten geben. Irgendjemand hat Zugang zu diesen Listen, also muss ich ihn nur aufspüren. Ich lasse den Blick über die Häuser schweifen. Nach allen Regeln der Vernunft müsste das Gebäude in der Mitte das wichtigste sein, warum also nicht genau hier mit der Suche beginnen?
Überall wimmelt es von Mitgliedern der Fraktion. Die Regeln der Ken bestimmen, dass jeder zumindest ein blaues Kleidungsstück tragen muss, denn Blau lässt den Körper beruhigende Substanzen produzieren, und » ein ruhiger Geist ist ein klarer Geist«. Die Farbe Blau ist das Erkennungszeichen dieser Fraktion. Mir kommt es unglaublich grell vor. Ich habe mich an düsteres Licht und dunkle Kleider gewöhnt.
Ich rechne damit, dass ich mich durch die Menge schieben muss, ständig angerempelt werde und andauernd » Entschuldigung« murmle, so wie ich es immer tue, aber hier ist das anders. Seit ich zu den Ferox gehöre, nehmen mich die Menschen wahr. Die Leute machen mir sogar Platz, aber ihre Augen folgen mir auf Schritt und Tritt. Ich ziehe das Gummiband aus meinem Haar und schüttle den Kopf, damit mein Haar frei fällt, ehe ich durch die Eingangstür gehe.
In der Empfangshalle bleibe ich stehen und lege den Kopf in den Nacken. Der Raum ist riesig, still und es riecht nach verstaubten Buchseiten. Der Parkettboden knarrt unter meinen Schritten. Buchregale ziehen sich an den Wänden entlang, aber sie scheinen in erster Linie als Dekoration zu dienen. Auf einem Tisch in der Mitte des Raums stehen unzählige Computer, kein Mensch liest in einem Buch, alle starren konzentriert auf die Bildschirme.
Ich hätte es mir denken können, dass die Bibliothek das
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