Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
wichtigste Gebäude der Ken ist. Ein Porträt an der gegenüberliegenden Wandseite zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist doppelt so hoch wie ich und etwa viermal so breit und es zeigt eine attraktive Frau mit hellgrauen Augen und einer Brille: Jeanine. Allein ihr Bild regt mich so auf, dass Wut in mir aufsteigt. Sie ist die Bevollmächtigte der Ken, sie ist diejenige, die die Berichte über meinen Vater in Umlauf gebracht hat! Seit mein Vater angefangen hat, beim Abendbrottisch über sie zu schimpfen, ist sie mir unsympathisch, aber mittlerweile hasse ich sie. Unter ihrem Bild hängt eine große Tafel, auf der zu lesen steht: WISSEN BRINGT WOHLSTAND .
Wohlstand. Für mich hat das Wort einen faden Beigeschmack. Bei den Altruan steht es für Egoismus.
Wie konnte Caleb sich nur diesen Leuten anschließen? Was sie tun, was sie wollen, ist unrecht. Aber vermutlich denkt er dasselbe von den Ferox.
Ich gehe zu dem Pult, das direkt unter Jeanines Porträt steht. Der junge Mann hinter dem Pult blickt nicht auf, sondern fragt geistesabwesend: » Kann ich helfen?«
» Ich suche jemanden«, sage ich. » Er heißt Caleb. Wo kann ich ihn finden?«
» Ich darf keine persönlichen Auskünfte geben«, erwidert der junge Mann knapp und tippt weiter auf seinen Bildschirm.
» Er ist mein Bruder.«
» Ich darf keine…«
Meine Faust kracht auf die Tischplatte und reißt ihn aus seiner Teilnahmslosigkeit. Er starrt mich über den Brillenrand an. Alle Köpfe drehen sich nach mir um.
» Ich habe gesagt, ich suche jemanden. Einen der Initianten. Kannst du mir wenigstens sagen, wohin ich mich wenden soll?«
» Beatrice?«, fragt jemand hinter mir.
Ich drehe mich um. Hinter mir steht Caleb mit einem Buch in der Hand. Seine Haare sind länger als früher, sie reichen ihm bis über die Ohren. Er hat ein blaues T-Shirt an und trägt eine rechteckige Brille. Obwohl er so verändert aussieht und ich ihn eigentlich gar nicht mehr lieb haben dürfte, renne ich zu ihm und schließe ihn in meine Arme.
» Du hast ein Tattoo«, sagt er dumpf.
» Und du eine Brille.« Ich trete einen Schritt zurück und kneife die Augen zusammen. » Du siehst doch ausgezeichnet, Caleb, wozu das?«
» Hm…« Sein Blick schweift über die Tischreihen. » Komm. Gehen wir nach draußen.«
Wir verlassen die Bibliothek und überqueren die Straße; ich muss mich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Gegenüber der Bibliothek war früher einmal ein Park. Jetzt nennen wir es » Millennium«. Es ist ein ödes Stück Land, auf dem ein paar verrostete Metallskulpturen stehen– ein riesiges Mammut aus Metallplatten zum Beispiel oder eine gigantische Limabohne, neben der ich wie ein Winzling wirke.
Wir steigen auf den Zementsockel der Metallbohne. Überall sitzen Ken in kleinen Grüppchen, lesen Zeitungen oder Bücher. Caleb nimmt die Brille ab und steckt sie in die Tasche, dann fährt er sich mit den Fingern durchs Haar. Er weicht meinem Blick aus, so als schäme er sich. Vielleicht sollte ich mich auch schämen. Ich bin tätowiert, trage meine Haare offen und habe eng anliegende Kleider an. Aber ich schäme mich nicht.
» Was machst du hier?«, fragt er mich.
» Ich hatte Sehnsucht nach zu Hause. Und der Nächste, der mir eingefallen ist, warst du.«
Er presst die Lippen zusammen.
» Du scheinst ja vor Freude ganz aus dem Häuschen zu sein, Caleb.«
» Hey«, sagt er und legt mir die Hand auf die Schultern. » Ich freue mich wahnsinnig, dich zu sehen, okay? Es ist aber nicht erlaubt. Es ist gegen die Vorschriften.«
» Das ist mir egal«, sage ich. » Das ist mir völlig egal, okay?«
» Das sollte es aber nicht sein.« Seine Stimme ist freundlich, aber sein Blick ist tadelnd. » Ich an deiner Stelle würde alles tun, um keinen Ärger mit meiner Fraktion zu bekommen.«
» Was soll das heißen?«
Ich weiß ganz genau, was das heißen soll. Er hält die Ferox für die grausamste der fünf Fraktionen, nicht mehr und nicht weniger.
» Ich möchte nur nicht, dass dir etwas zustößt. Kein Grund, so aufzubrausen.« Er legt den Kopf schief und sieht mich forschend an. » Was ist mit dir passiert?«
» Nichts. Mit mir ist gar nichts passiert.«
Ich schließe die Augen und reibe mir über den Nacken. Selbst wenn ich ihm alles erklären könnte, ich würde es nicht wollen. Ich bringe nicht einmal die nötige Willenskraft auf, darüber nachzudenken.
» Denkst du…« Er blickt auf seine Schuhe. » Denkst du, du hast die richtige Wahl getroffen?«
» Ich
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