Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
angegriffen wirst? Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Ellbogen nach hinten schlage und jemanden in den Magen oder die Leiste treffe. Ich sehe mich wegrennen. Ich wünschte, ich hätte eine Waffe. Das sind Gedankengänge der Ferox, und sie sind jetzt auch die meinen geworden. Wie reagierst du, wenn du von zwei Personen auf einmal angegriffen wirst?
Ich folge dem Mann durch einen leeren, hellen Gang in ein Büro. Die Wände sind aus Glas– jetzt weiß ich, welche Fraktion meine Schule entworfen hat.
Hinter einem Metallschreibtisch sitzt eine Frau. Ich kenne dieses Gesicht. Es hängt überlebensgroß in der Bibliothek der Ken, es prangt auf jeder Mitteilung, die sie verbreiten. Wie lange schon hasse ich dieses Gesicht? Ich weiß es nicht.
» Setz dich«, sagt Jeanine. Ihre Stimme kommt mir bekannt vor, besonders wenn sie gereizt klingt wie jetzt. Ihre hellgrauen Augen heften sich auf meine.
» Ich bleibe lieber stehen.«
» Setz dich«, wiederholt sie scharf.
Ja, ich habe die Stimme schon einmal gehört. Es war im Gang bei den Ferox, da hat sie mit Eric geredet, kurz bevor ich angegriffen wurde. Sie hat über Unbestimmte gesprochen. Und davor auch schon einmal…
» Es war Ihre Stimme, die ich in der Simulation gehört habe«, sage ich. » Ich meine die Simulation während des Eignungstests.«
Sie ist die Gefahr, vor der mich Tori und meine Mutter gewarnt haben, die Gefahr für alle, die unbestimmt sind. Und jetzt sitzt sie direkt vor mir.
» So ist es. Die Eignungstests zähle ich zu meinen größten Erfolgen als Wissenschaftlerin«, antwortet sie. » Ich habe mir deine Ergebnisse angesehen, Beatrice. Anscheinend hat es bei deinem Test ein Problem gegeben, deshalb musste die Bewertung von Hand in das System eingetragen werden. Hast du das gewusst?«
» Nein.«
» Und hast du gewusst, dass es nur zwei Personen gibt, deren Testergebnis den Altruan zugeordnet wurde und die trotzdem zu den Ferox gewechselt sind? Eine davon bist du.«
» Nein.« Ich versuche, mir den Schrecken nicht anmerken zu lassen. Tobias und ich sind die Einzigen? Aber sein Testergebnis war echt und meines ist gefälscht. Also ist er der Einzige.
Bei dem Gedanken an ihn krampft sich mein Magen zusammen. Mir ist es völlig egal, wie einzigartig er ist. Er hat mich » erbärmlich« genannt.
» Warum hast du dich für die Ferox entschieden?«, will Jeanine wissen.
» Was soll die Frage?« Ich versuche, nicht laut zu werden, aber es klappt nicht. » Wollen Sie mich stattdessen nicht lieber zurechtweisen, dass ich meine Fraktion verlassen und meinen Bruder aufgesucht habe? Fraktion vor Blut, so heißt es doch.« Ich halte inne. » Und wo ich gerade daran denke. Wieso bin ich eigentlich hier in diesem Büro? Sind Sie denn nicht ein hohes Tier oder so ähnlich?« Vielleicht verpasst ihr das einen Dämpfer.
Ihre Lippen werden schmal. » Die Zurechtweisungen überlasse ich den Ferox«, sagt sie und lehnt sich zurück.
Ich stütze mich auf die Lehne des Stuhls, auf den ich mich nicht setzen wollte, und umklammere sie. Hinter Jeanine ist ein Fenster, von dem aus man die ganze Stadt überblicken kann. In der Ferne kommt langsam ein Zug um die Kurve.
» Um deine Frage zu beantworten… Ein wesentliches Kennzeichen unserer Fraktion ist die Neugier«, fährt sie fort. » Und als ich die Aufzeichnungen über dich noch einmal genau durchgesehen habe, ist mir aufgefallen, dass auch bei einer weiteren Simulation etwas nicht stimmte. Und auch diesmal wurde es nicht aufgezeichnet. Hast du das gewusst?«
» Wie sind Sie überhaupt an die Aufzeichnungen gekommen? Nur die Ferox haben Zugang zu den Berichten.«
» Die Ken haben die Simulationen entwickelt, daher haben wir ein… Übereinkommen mit den Ferox getroffen, Beatrice.« Sie legt den Kopf schief und lächelt mich an. » Mir geht es einzig und allein um die Leistungsfähigkeit unserer Technologie. Wenn sie bei deinen Tests regelmäßig versagt, dann muss ich den Fehler beheben, verstehst du?«
Ich verstehe nur eines: Sie lügt. Sie sorgt sich nicht um die Technologie, sie vermutet vielmehr, dass etwas mit meinen Testergebnissen nicht stimmt. Genau wie die Anführer der Ferox macht sie Jagd auf Unbestimmte. Und wenn meine Mutter möchte, dass Caleb das Simulationsserum erforscht, dann vermutlich deshalb, weil Jeanine es entwickelt hat.
Aber was ist so bedrohlich daran, dass ich den Ablauf der Simulationen beeinflussen kann? Welche Rolle spielt das ausgerechnet für die Anführerin der Ken?
Auf
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