Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
glaube nicht, dass ich überhaupt eine Wahl hatte«, sage ich. » Und wie steht’s mit dir?«
Die Leute, die an uns vorbeilaufen, schauen uns an und Caleb lässt den Blick aufmerksam über ihre Gesichter schweifen. Er ist immer noch nervös, aber vielleicht liegt das nicht daran, wie er aussieht oder wie ich aussehe. Vielleicht ist er wegen der anderen Ken nervös. Ich packe ihn am Arm und ziehe ihn zur Metallbohne. Wir schlüpfen unter der hohlen Unterseite hindurch. Ich sehe überall mein Spiegelbild, verzerrt von den Rundungen der Skulptur, rissig vom Rost und vom Schmutz.
» Was ist los?«, frage ich und verschränke die Arme. Ich habe die dunklen Ringe um seine Augen zuvor gar nicht bemerkt. » Was stimmt denn nicht?«
Caleb stützt sich mit der Hand an die Metallträger. In seinem Spiegelbild ist der Kopf winzig und an einer Seite eingedrückt, der Arm grotesk nach hinten gebogen. In meinem Spiegelbild sehe ich klein und gedrungen aus.
» Irgendeine große Sache ist am Laufen, Beatrice. Irgendetwas läuft in die falsche Richtung.« Seine Augen sind riesengroß und glasig. » Ich weiß nicht, was es ist, aber die Leute rennen aufgeregt umher, reden im Flüsterton, und Jeanine hält täglich irgendwelche Reden, in denen sie erklärt, wie korrupt die Altruan sind.«
» Und du glaubst ihr?«
» Nein. Vielleicht. Ich weiß nicht…« Er schüttelt den Kopf. » Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
» Doch, das tust du«, sage ich ernst. » Du weißt, wer unsere Eltern sind. Du weißt, wer unsere Freunde sind. Glaubst du ernsthaft, dass Susans Vater korrupt ist?«
» Was weiß ich denn? Was durfte ich denn wissen? Wir durften doch keine Fragen stellen, Beatrice. Und hier…« Er blickt nach oben, und in dem kleinen Fleckchen über unseren Köpfen, in dem wir uns spiegeln, sehe ich uns als winzige Gestalten, fingernagelgroß. Ja, das ist unser wahres Spiegelbild, so klein sind wir tatsächlich. » Hier darf jeder alles wissen«, fährt Caleb fort, » die Informationen stehen jedem jederzeit zur Verfügung.«
» Wir sind hier nicht bei den Candor. Hier gibt es Lügner, Caleb. Hier gibt es Menschen, die so gerissen sind, dass sie wissen, wie sie dich beeinflussen können.«
» Meinst du nicht, dass ich es bemerken würde, wenn man mich manipulieren will?«
» Wenn sie so klug sind, wie du behauptest, nein. Ich glaube, du würdest es nicht bemerken.«
» Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagt er kopfschüttelnd.
» Ja, woher sollte ich auch wissen, wie es in einer skrupellosen Fraktion zugeht? Ich bereite mich ja nur darauf vor, eine Ferox zu werden, zum Teufel noch mal«, sage ich. » Aber ich weiß wenigstens, wo ich hingehöre, Caleb. Du hingegen hast dich dafür entschieden zu ignorieren, was wir unser Leben lang gewusst haben– nämlich dass diese Leute hier überheblich und gierig sind und dich kein Stückchen weiterbringen werden.«
» Ich denke, du solltest jetzt gehen, Beatrice«, sagt er schneidend.
» Mit Vergnügen«, fauche ich ihn an. » Oh, ich nehme zwar nicht an, dass dich das interessiert, aber Mom bittet dich, das Serum für die Simulationen näher zu untersuchen.«
» Hast du sie etwa gesehen?« Er wirkt verletzt. » Warum ist sie nicht…«
» Weil die Ken die Altruan nicht mehr auf ihr Gelände lassen«, erwidere ich scharf. » Stand dir diese Information etwa nicht zur Verfügung?«
Ich drängle mich an ihm vorbei, weg von den Spiegelungen und weg von ihm. Ich hätte nicht hierherkommen sollen. Das Hauptquartier der Ferox erscheint mir auf einmal wie ein Zuhause– wenigstens weiß ich dort genau, wo ich stehe: auf schwankendem Boden nämlich.
Die Leute auf dem Gehweg weichen zur Seite. Ich schaue hoch und begreife, weshalb. Ein paar Schritte vor mir stehen zwei Ken und versperren mir den Weg.
» Du da«, sagt der eine. » Du musst mitkommen.«
Einer der beiden Männer geht so dicht hinter mir her, dass ich seinen Atem an meinem Kopf spüre. Der andere führt mich in die Bibliothek und durch drei Gänge zu einem Aufzug. Hinter der Bibliothek gibt es keinen Parkettfußboden mehr, sondern weiße Fliesen, und die Wände leuchten wie in dem Raum, in dem die Eignungstests stattgefunden haben. Das Leuchten spiegelt sich in den silberfarbenen Türen des Aufzugs wider, und ich blinzle ein paarmal, damit ich überhaupt etwas sehe.
Ich versuche, ruhig zu bleiben. Im Geiste wiederhole ich die Fragen aus dem Trainingsprogramm der Ferox. Wie reagierst du, wenn du von hinten
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