Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Ängste sehr wenig sind, wenig genug, um sich seinen Spitznamen zu verdienen. Ich wusste allerdings nicht, dass es weniger als die Hälfte des Durchschnitts ist. Ich starre ebenfalls angestrengt auf meine Füße. Er ist außergewöhnlich– ein Phänomen. Und jetzt mag er mich nicht einmal mehr anschauen.
» Heute werdet ihr noch nicht herausfinden, wie viele Ängste ihr habt«, verkündet Lauren. » Die Simulation beruht auf meiner eigenen Angstlandschaft, das heißt, ihr werdet meine Ängste durchleben und nicht eure.«
Ich werfe Christina einen vielsagenden Blick zu. Ich hatte recht; wir werden nicht Fours Landschaft durchwandern.
» Zu Übungszwecken wird jeder von euch allerdings nur einer von meinen Ängsten ins Auge sehen müssen, damit ihr einen Eindruck davon bekommt, wie die Simulation abläuft.«
Lauren zeigt auf jeden von uns und ordnet uns dabei willkürlich eine Angst zu. Ich stehe hinten, deshalb bin ich als eine der Letzten dran. Lauren teilt mir die Angst, von jemandem entführt zu werden, zu.
Weil wir nicht mit dem Computer verbunden sind, solange wir nicht an der Reihe sind, kann ich nicht sehen, was sich in den Simulationen abspielt, sondern nur, wie die anderen darauf reagieren. Es ist das beste Mittel, um mich von meinen ständigen Gedanken an Tobias abzulenken. Ich balle die Fäuste, als Will unsichtbare Spinnen von seinem Körper wischt und Uriah sich gegen unsichtbare Wände stemmt, und ich grinse, als Peter knallrot anläuft, weil er auf irgendeine Art und Weise öffentlich gedemütigt wird.
Dann bin ich an der Reihe.
Das, was jetzt kommt, wird ganz sicher nicht sehr angenehm für mich, aber weil ich bisher jede Simulation beeinflussen konnte und auch schon durch Tobias’ Angstlandschaft gegangen bin, bleibe ich gelassen, als Lauren mir die Nadel in den Hals sticht.
Die Umgebung ändert sich, der Boden unter meinen Füßen wird zu Gras. Ich bin sofort mitten in der Entführung. Hände klammern sich um meine Arme, legen sich auf meinen Mund. Es ist dunkel, daher kann ich kaum etwas erkennen. Ich stehe an der Schlucht, das Wasser rauscht. Ich schreie in die Hand, die mir den Mund zuhält, und wehre mich, aber die Arme, die mich umklammern, sind zu stark. Im Geiste sehe ich mich, wie ich in die Tiefe stürze; es ist dasselbe Bild, das mich in meinen Albträumen verfolgt. Ich schreie und schreie, bis mein Hals ganz rau ist und heiße Tränen aus meinen Augen quellen.
Ich wusste, dass sie wiederkommen und mich holen würden, dass sie es ein zweites Mal versuchen würden. Einmal war nicht genug. Ich schreie, nicht nach Hilfe, denn keiner wird mir helfen, sondern weil man immer schreit, wenn man stirbt und nichts dagegen tun kann.
» Halt«, befiehlt eine ernste Stimme.
Die Hände verschwinden und die Lichter gehen an. Die Angstlandschaft entlässt mich wieder. Am ganzen Körper zitternd, sinke ich auf die Knie und schlage die Hände vors Gesicht. Ich habe versagt. Ich habe alle Logik, allen Verstand vergessen. Laurens Angst hat sich in meine Angst verwandelt.
Und alle haben mich gesehen. Tobias hat mich gesehen.
Ich höre Schritte. Tobias kommt auf mich zu und zerrt mich hoch.
» Was zum Teufel war das denn, Stiff?«
» Ich…« Mein Atem geht keuchend und ich bekomme einen Schluckauf. » Ich habe nicht…«
» Reiß dich zusammen. Das ist erbärmlich.«
Irgendetwas in mir rastet aus. Ich höre auf zu weinen. Mir wird heiß, und diese Hitze vertreibt augenblicklich jede Schwäche. Ich verpasse ihm einen solchen Schlag, dass meine Fingerknöchel danach wie Feuer brennen. Er starrt mich an, eine Seite seines Gesichts ist rot. Ich halte seinem Blick stand.
» Halt die Klappe!«, schreie ich.
Ich reiße mich von ihm los und renne weg.
28 . Kapitel
Ich ziehe meine Jacke fester um die Schulter. Ich war schon lange nicht mehr im Freien. Die fahle Sonne scheint mir ins Gesicht und mein Atem bildet kleine Wölkchen.
Eines zumindest habe ich erreicht: Ich habe Peter und seine Freunde davon überzeugt, dass ich keine Bedrohung mehr für sie bin. Ich muss nur sicherstellen, dass ich sie morgen, wenn ich durch meine eigene Angstlandschaft gehe, Lügen strafe. Gestern hielt ich es für undenkbar zu versagen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Meine Tränen sind versiegt. Ich fahre mit der Hand durchs Haar und binde es mit einem Gummiband, das ich am Handgelenk trage, zu einem Pferdeschwanz. Jetzt bin ich wieder mehr ich selbst. Mehr brauche ich nicht: Ich muss mir nur sicher
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