Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
vielleicht.«
» Ich kann ja so tun, als wüsste ich von nichts.«
» Nett von dir.« Er beugt sich vor und flüstert mir ins Ohr: » Du siehst gut aus, Tris.«
Seine Worte überraschen mich und mein Herz klopft schneller. Ich wünschte, es würde nicht so heftig pochen, denn nach der Art zu urteilen, wie er mich ansieht, weiß er selbst nicht, was er da sagt. Ich lache. » Tu mir einen Gefallen und halte dich von der Schlucht fern, okay?«
» Klar doch.« Er zwinkert mir zu.
Ich kann nicht anders, ich lächle zurück. Will räuspert sich, aber ich muss Four nachschauen, auch noch, als er sich wieder zu seinen Freunden gesellt.
Da stürzt Al sich auf mich und wirft mich wie einen Sack über die Schulter. Ich kreische los und kriege ein rotes Gesicht.
» Komm schon, kleines Mädchen. Ich trage dich zum Abendessen.« Ich stütze mich mit den Ellenbogen auf Als Rücken ab und winke Four zu, während Al mich wegträgt.
» Ich dachte, ich rette dich mal lieber aus dieser Situation«, sagt Al, als er mich schließlich absetzt. » Was ging denn da gerade ab?«
Er versucht, unbeschwert zu klingen, aber so, wie er fragt, klingt es eher traurig. Er hat immer noch Gefühle für mich.
» Ja, das wüssten wir alle gerne«, sagt Christina fast trällernd. » Was hat er denn zu dir gesagt?«
» Nichts weiter.« Ich schüttle den Kopf. » Er war betrunken. Er wusste nicht, was er sagt.« Ich räuspere mich. » Deshalb habe ich auch gegrinst. Es ist… lustig, ihn so zu sehen.«
» Richtig«, sagt Will. » Aber vielleicht liegt es auch daran, dass…«
Ich versetze Will einen kräftigen Stoß zwischen die Rippen, damit er nicht weiterspricht. Er stand nahe genug bei mir, bestimmt hat er gehört, was Four über mein Aussehen gesagt hat. Ich will nicht, dass er das allen weitererzählt, am allerwenigsten Al. Ich möchte nicht, dass Al noch mehr den Kopf hängen lässt.
Zu Hause habe ich immer ruhige, schöne Abende mit meiner Familie verbracht. Meine Mutter hat Schals für die Nachbarskinder gestrickt, mein Vater half Caleb bei den Hausaufgaben, im Ofen brannte ein Feuer, und in meinem Herzen herrschte Frieden, weil ich genau das tat, was man von mir erwartete. Und alles war ruhig.
Ich bin nie von einem kräftigen Jungen durch die Gegend getragen worden, ich habe nie am Esstisch so gelacht, dass mir der Bauch wehtat. Ich habe nie den Lärm gehört, den hundert Leute machen, wenn sie alle auf einmal reden.
Frieden bedeutet Einschränkung. Das hier ist Freiheit.
20 . Kapitel
Ich atme durch die Nase. Ein, aus, ein.
» Es ist nur eine Simulation«, sagt Four ruhig.
Er irrt. Die letzte Simulation hat mich nicht losgelassen, weder am Tag noch in der Nacht. Albträume, in denen ich mich nicht nur vor den Krähen fürchtete, sondern vor allem vor den Gefühlen, die sie bei mir ausgelöst haben– Entsetzen und Hilflosigkeit. Ich glaube, vor diesen Gefühlen fürchte ich mich am meisten. Plötzliche Anfälle von Angst unter der Dusche, beim Frühstück, auf meinem Weg hierher. Nägel, die so abgebissen sind, dass das Nagelbett wehtut. Und ich bin nicht die Einzige, der es so geht, das weiß ich genau.
Trotzdem nicke ich und schließe die Augen.
Um mich herum ist es dunkel. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist der Metallstuhl und die Nadel in meinem Arm. Diesmal bin ich nicht auf einem Feld und es sind auch keine Krähen da. Mein Herz pocht ahnungsvoll. Welche Ungeheuer werden diesmal aus dem Dunkeln gekrochen kommen und mir Sinn und Verstand rauben? Wie lange werde ich diesmal auf sie warten müssen?
Vor mir leuchtet eine blaue Kugel auf, dann noch eine, sie erhellen den ganzen Raum. Ich bin in der Grube, direkt neben der Schlucht, die anderen Initianten stehen mit verschränkten Armen und ausdruckslosen Gesichtern um mich herum. Auch Christina ist unter ihnen. Keiner bewegt sich. Die Lautlosigkeit ist beklemmend und schnürt mir die Kehle zu.
Ich sehe etwas vor mir– mein eigenes verschwommenes Spiegelbild. Als ich es berühre, stoßen meine Finger an kaltes, glattes Glas. Ich blicke nach oben. Über mir ist eine Glasscheibe; ich befinde mich in einer gläsernen Box. Ich drücke an die obere Scheibe, um zu prüfen, ob ich den Behälter gewaltsam öffnen kann. Ohne Erfolg.
Ich bin eingesperrt.
Mein Herz hämmert. Ich will nicht gefangen sein. Jemand klopft von außen an die Scheibe. Four. Er zeigt feixend auf meine Füße.
Gerade waren meine Füße noch trocken, aber jetzt steht da Wasser. Meine Strümpfe sind
Weitere Kostenlose Bücher