Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Jedenfalls will ich es fragen, aber meine Stimme klingt erstickt und heiser. Ich muss mich räuspern, ehe ich es wiederholen kann. » Was ist hier los?«
Peter hört auf zu lesen und einige Leute drehen sich um. Manche sehen mich wie Christina bedauernd an, aber die meisten feixen und werfen sich vielsagende Blicke zu. Peter ist der Letzte, der sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu mir umdreht.
» Gib das her«, sage ich und strecke die Hand aus. Mein Gesicht glüht.
» Ich bin noch nicht fertig mit dem Lesen«, antwortet er hämisch. Er überfliegt das Blatt wieder. » Aber vielleicht ist die Antwort nicht bei einem moralisch verderbten Mann zu suchen, sondern in den überkommenen Wertvorstellungen einer ganzen Fraktion. Vielleicht lautet die Antwort darauf, dass wir unsere Stadt allzu leichtfertig frömmelnden Tyrannen anvertraut haben, die nicht wissen, wie sie uns aus der Armut in den Wohlstand führen können.«
Ich renne hin und will ihm das Papier aus der Hand reißen, doch er hält es so hoch über meinen Kopf, dass ich es nicht zu fassen kriege, es sei denn, ich springe danach. Aber ich werde nicht springen. Stattdessen trete ich mit dem Absatz, so fest ich kann, auf seine Zehenwurzeln. Er beißt die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen.
Dann stürze ich mich auf Molly. Ich hoffe, sie mit der schieren Wucht meines Angriffs umzuwerfen, aber ehe ich ihr etwas tun kann, legen sich kalte Hände um meine Taille.
» Das ist mein Vater!«, schreie ich. » Mein Vater, du Feigling!«
Will zieht mich von ihr weg und hebt mich hoch. Ich atme stoßweise, ich muss das Blatt Papier zu fassen kriegen, ehe jemand noch ein Wort davon liest. Ich muss es verbrennen! Ich muss es vernichten! Ich muss es!
Will schleppt mich hinaus in den Gang, seine Fingernägel graben sich in meine Haut. Sobald die Tür hinter uns zufällt, lässt er mich los.
Ich versetze ihm einen Stoß, so fest ich kann.
» Was soll das? Hast du gedacht, ich könnte mich nicht selbst gegen dieses Candor-Gesindel verteidigen?«
» Nein.« Will stellt sich vor die Tür. » Ich wollte dich nur vor einer Schlägerei im Schlafsaal bewahren. Beruhige dich.«
Ich lache bitter. » Ich soll mich beruhigen? Beruhigen? Das ist meine Familie, über die sie geredet haben. Meine Fraktion!«
» Nein, ist es nicht.« Unter seinen Augen sind dunkle Ringe, er sieht erschöpft aus. » Es ist deine alte Fraktion, und es gibt nichts, womit du die da drin zum Schweigen bringst, also kannst du sie auch genauso gut ignorieren.«
» Hast du überhaupt zugehört?« Meine Wangen glühen nicht mehr und mein Atem geht jetzt ruhiger. » Deine blöde alte Fraktion beleidigt die Altruan nicht nur, sie wollen den Sturz der gesamten Regierung.«
Will lacht. » Nein, das wollen sie nicht. Sie sind arrogant und engstirnig, deshalb habe ich ihnen den Rücken gekehrt, aber sie sind keine Revoluzzer. Sie wollen einfach mehr Mitsprache haben, das ist alles, und sie verübeln es den Altruan, dass die nicht auf sie hören.«
» Sie wollen nicht, dass die Leute ihnen zuhören, sie wollen, dass die Leute ihrer Meinung sind«, widerspreche ich ihm. » Es ist falsch, andere zu nötigen, der gleichen Meinung zu sein.« Ich wische mir über die Wangen. » Ich kann es immer noch nicht fassen, dass mein Bruder ausgerechnet zu den Ken gegangen ist.«
» Hey. Sie sind nicht alle schlecht«, sagt er scharf.
Ich nicke, aber ich glaube ihm nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ohne Schaden bei den Ken aufwächst, auch wenn Will allem Anschein nach in Ordnung ist.
Die Tür geht auf und Christina und Al kommen heraus.
» Ich lasse mir ein Tattoo stechen«, verkündet Christina. » Willst du mitkommen?«
Ich streiche meine Haare aus dem Gesicht. Ich kann jetzt nicht in den Schlafsaal zurück. Selbst wenn Will mich dorthin gehen lässt, ich kann gegen die Überzahl nichts ausrichten. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzugehen und nicht mehr an das zu denken, was sich außerhalb des Geländes der Ferox abspielt. Ich hab so schon genug Probleme, auch ohne mich um meine Familie sorgen zu müssen.
Al trägt Christina huckepack vor mir her. Sie kreischt, als er sich mitten durch die Leute drängelt, und alle versuchen, einen möglichst weiten Bogen um die beiden zu machen.
Meine Schulter brennt immer noch. Christina hat mich überredet, mir, genau wie sie, das Zeichen der Ferox eintätowieren zu lassen. Ein Kreis mit einer Flamme. Seit meine Mutter beim Anblick des
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