Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
hegte?«
Ich versuche mir vorzustellen, dass Caleb sich umbringen wollte. Allein der Gedanke ist lächerlich. Egal wie schlecht es Caleb ginge, Selbstmord wäre kein Ausweg für ihn.
Toris Ärmel sind hochgekrempelt, und mir fällt ein Tattoo auf, das einen Fluss darstellt. Hat sie es sich nach dem Tod ihres Bruders machen lassen? Gehört der Fluss zu den Ängsten, die sie überwunden hat?
Sie senkt die Stimme. » In der zweiten Phase des Trainings war Georgie besonders gut. Und besonders schnell. Er sagte, die Simulationen jagten ihm überhaupt keine Angst ein… sie kämen ihm wie ein Spiel vor. Das hat die Aufmerksamkeit der Ausbilder auf ihn gelenkt. Anstatt sich die Ergebnisse berichten zu lassen, haben sie bei seinen Simulationen alle zugeschaut und sich ständig im Flüsterton über ihn unterhalten. Zu seiner letzten Simulation erschienen sogar die Anführer der Ferox, um sich selbst davon zu überzeugen. Und am nächsten Tag war Georgie tot.«
Ich könnte bei den Simulationen auch besonders gut abschneiden, wenn ich es schaffe, die Kraft zu steuern, die es mir ermöglichte, das Glas zu zerbrechen. Ich kann so gut sein, dass alle Ausbilder es merken. Ich könnte es. Aber will ich das?
» Ist das alles?«, frage ich. » Heißt das, man ist unbestimmt, nur weil man den Verlauf der Simulation beeinflussen kann?«
» Ich bezweifle es«, sagt sie. » Aber mehr weiß ich auch nicht.«
» Wie viele Leute wissen davon, dass man die Simulationen beeinflussen kann?«, frage ich und denke dabei an Four.
» Zwei Gruppen von Leuten«, sagt sie. » Die einen, die dich am liebsten tot sähen. Und die anderen, die es am eigenen Leib erfahren haben oder aus zweiter Hand, wie ich.«
Four hat angedeutet, er werde die Aufzeichnungen darüber, wie ich das Glas zerbrochen habe, vernichten. Er will nicht, dass ich sterbe. Ist er auch ein Unbestimmter? Hatte er einen in der Familie? Einen Freund? Eine Freundin?
Ich schiebe den Gedanken beiseite. Ich darf mich nicht von Four ablenken lassen.
» Ich verstehe nicht«, sage ich langsam, » warum es die Anführer der Ferox überhaupt interessiert, ob jemand die Simulationen steuern kann.«
» Wenn ich das wüsste, hätte ich es dir gesagt.« Sie presst die Lippen zusammen. » Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass nicht das Manipulieren der Simulation an sich ihr Interesse weckt; es ist nur eine Begleiterscheinung von etwas anderem. Von etwas, was für sie von großer Bedeutung ist.«
Tori nimmt meine Hand und hält sie fest zwischen ihren Händen.
» Sieh es mal so: Diese Leute haben dir beigebracht, wie man mit einer Waffe umgeht. Sie haben dir beigebracht zu kämpfen. Glaubst du allen Ernstes, sie würden zögern, dir wehzutun? Dich zu töten?«
Sie lässt meine Hand los und steht auf.
» Ich muss gehen, sonst wird Bud neugierig und stellt Fragen. Sei vorsichtig, Tris.«
21 . Kapitel
Die Tür zur Grube schließt sich hinter mir und ich bin ganz allein. Seit der Zeremonie der Bestimmung war ich nicht mehr in dem langen Tunnel. Ich erinnere mich noch genau daran, wie unsicher meine Schritte in dem schummrigen Licht damals waren. Jetzt setze ich selbstbewusst einen Fuß vor den anderen. Licht brauche ich dazu nicht.
Vier Tage sind seit meinem Gespräch mit Tori vergangen. Seither haben die Ken zwei Artikel veröffentlicht, die sich gegen die Altruan richten. Im ersten beschuldigen sie die Altruan, sie würden den anderen Fraktionen Luxusgegenstände wie zum Beispiel Autos und frisches Obst vorenthalten, um allen ihre eigene Lebensweise der völligen Selbstverleugnung aufzuzwingen. Als ich ihn gelesen habe, ist mir sofort Wills Schwester Cara eingefallen, die meiner Mutter vorgeworfen hat, Waren zu horten.
Der zweite Artikel wirft die Frage nach den Auswahlkriterien für Regierungsmitglieder auf. Es gebe keinen Grund, heißt es, dass einzig und allein jene Fraktion berücksichtigt werde, die von sich behauptet, selbstlos zu sein. Stattdessen wird eine Rückkehr zu den demokratisch gewählten politischen Systemen befürwortet, die man aus der Vergangenheit kennt. Die Ausführungen klingen sehr vernünftig, aber gerade deshalb habe ich den Verdacht, dass es in Wahrheit ein Aufruf zur Revolution unter dem Deckmantel der Vernunft ist.
Ich bin am Ende des Tunnels angekommen. Das Netz erstreckt sich über das klaffende Loch, so wie schon beim letzten Mal. Ich klettere die Stufen zu der Holzplattform hinauf, wo Four mich seinerzeit auf festen Grund und Boden gezogen hat, und
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