Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
das Schreien eines Kindes. Ich drehe mühsam den Kopf, damit ich sehen kann, woher das Geräusch kommt, aber es ist nur der Überwachungsmonitor. Über mir weben und winden sich die Fugen der Deckenfliesen zu ungeheuerlichen Kreaturen. Der Geruch nach verfaulendem Fleisch liegt in der Luft und ich muss würgen. Die ungeheuerlichen Kreaturen nehmen allmählich Gestalt an– sie werden zu Vögeln, zu Krähen mit Schnäbeln, die so lang sind wie mein Unterarm, und Flügeln, die so dunkel sind, dass sie alles Licht verschlucken.
» Tris«, sagt Tobias. Ich reiße mich von den Vögeln los.
Er steht an der Tür, genau dort, wo er stand, als ich die Spritze bekam, aber jetzt hat er ein Messer. Er hält es von sich weg und dreht es, sodass die Klinge auf ihn zeigt, auf seinen Bauch. Dann führt er das Messer auf sich zu, bis die Spitze seinen Bauch berührt.
» Was tust du da? Halt!«
Er lächelt ganz leicht und sagt: » Das tue ich für dich.«
Langsam sticht er sich das Messer in den Bauch, Blutflecken breiten sich am Saum seines T-Shirts aus. Ich muss würgen und rüttle wie wahnsinnig an den Gurten, die mich an den Tisch fesseln. » Nein, hör auf!« Ich schlage um mich. Aus einer Simulation hätte ich mich schon längst befreien können. Das bedeutet, es ist real, es ist Wirklichkeit. Ich schreie, als er sich das Messer bis zum Griff in den Bauch stößt. Er bricht zusammen und schnell bildet sich eine Blutlache um ihn herum. Die Schattenvögel starren ihn aus ihren Knopfaugen an und fliegen auf, sie werden zu einem Wirbelwind aus Flügeln und Krallen und picken auf ihn ein. Durch den Federwirrwar sehe ich seine Augen, sehe, dass er noch bei Bewusstsein ist.
Ein Vogel setzt sich auf seine Hand, mit der er das Messer festhält. Aber er zieht es heraus und es fällt klirrend zu Boden; ich sollte mir eigentlich wünschen, dass er tot ist, aber ich bin so egoistisch, ich schaffe es nicht. Ich bäume mich auf, spanne jeden Muskel, meine Kehle ist rau von meinen Schreien, die längst ohne Worte sind und die einfach nicht aufhören wollen.
» Beruhigungsmittel«, befiehlt eine strenge Stimme.
Wieder spüre ich eine Nadel in meinem Nacken und sofort verlangsamt sich mein Puls. Erleichtert schluchze ich auf. Eine Zeit lang bin ich zu nichts anderem fähig, als vor Erleichterung zu weinen.
Das war keine Furcht. Das war etwas anderes, ein Gefühl, das es eigentlich gar nicht geben dürfte.
» Lass mich zu ihr«, sagt Tobias, seine Stimme klingt rauer als zuvor. Ich blinzle schnell, ich will ihn durch meine Tränen hindurch sehen. Er hat rote Kratzer an den Armen, wo ihn die Ferox-Soldaten festgehalten haben, aber er stirbt nicht, er ist gesund. » Ich sage es nur, wenn du mich zu ihr lässt.«
Jeanine nickt und er rennt sofort zu mir. Er nimmt meine Hand in seine und mit der anderen streicht er mir übers Haar. Seine Finger sind nass von Tränen. Er wischt sie nicht ab. Er beugt sich zu mir und drückt seine Stirn an meine.
» Die Zufluchtsorte der Fraktionslosen«, murmelt er dumpf an meiner Wange. » Bringt mir eine Karte und ich zeichne sie auf.«
Seine Stirn liegt kühl und trocken an meiner. Meine Muskeln ächzen, wahrscheinlich weil ich so angespannt war, während Jeanine das Serum wer weiß wie lange durch meine Adern strömen ließ.
Er richtet sich wieder auf, seine Finger umklammern meine, bis ihn die Ferox-Wachen von mir wegreißen und ihn woanders hin bringen. Meine Hand fällt schwer auf die Tischplatte. Ich will mich nicht mehr dagegen wehren, festgebunden zu sein. Ich will nur noch schlafen.
» Wenn wir schon dabei sind…«, sagt Jeanine, als Tobias und seine Bewacher den Raum verlassen haben. Sie richtet ihre wasserhellen Augen auf einen Ken. » Holt ihn her. Es ist Zeit.«
Dann sieht sie wieder mich an.
» Während du schläfst, werden wir ein paar kleine Versuche durchführen, um einiges über dein Gehirn in Erfahrung zu bringen. Sie werden jedoch ohne einen direkten Eingriff vonstattengehen. Aber zuvor… Ich habe dir versprochen, dir nichts zu verschweigen, was unsere Arbeit hier angeht. Deshalb ist es nur fair, wenn du weißt, wer mich bei meinen Bemühungen unterstützt hat.« Sie lächelt ein wenig. » Wer mir gesagt hat, dass du für drei Fraktionen geeignet bist und wie man dich am besten dazu verleiten könnte, hierher zu kommen; und dass es geschickt wäre, deine Mutter in der Simulation auftreten zu lassen, damit sie noch wirkungsvoller ist.«
Sie sieht zur Tür, während bei mir die
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