Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
mir und greift nach meiner Hand. Ihre Finger fühlen sich trocken und rau an. Ihre Augen suchen meine, richten sich unbeirrbar auf mich. Ich fühle mich nicht ganz wohl, als unsere Blicke sich treffen.
Doch dann lasse ich mich in ihren Blick versinken und spüre prompt eine sonderbare Wirkung. Ich stehe wie angegossen da, ich kann mich nicht von der Stelle rühren, ich fühle mich schwerer als sonst. Aber dieses Gewicht fühlt sich nicht unangenehm an. Ihre Augen haben einen gleichmäßigen braunen Farbton und blinzeln kein einziges Mal.
» Möge der Friede Gottes mit dir sein«, sagt sie sanft, » auch inmitten dieser düsteren Zeit.«
» Warum sollte er?«, frage ich mit gedämpfter Stimme, sodass es niemand außer ihr hört. » Nach allem, was ich getan habe…«
» Das liegt nicht in deiner Hand«, sagt sie. » Es ist ein Geschenk. Du kannst es nicht verdienen, sonst wäre es keine Gnade mehr.«
Sie lässt mich los und geht weiter zu jemand anderem, aber ich bleibe einfach stehen, mit ausgestreckter Hand und ganz alleine. Jemand kommt auf mich zu und will nach meiner Hand greifen, aber da trete ich schon den Rückzug an, laufe weg, erst langsam, dann immer schneller.
Ich renne so schnell ich kann in Richtung der Bäume, und erst als meine Lungen brennen wie Feuer, bleibe ich wieder stehen.
Ich presse meine Stirn gegen den nächsten Baumstamm, auch wenn ich mir dabei die Haut aufschürfe, und kämpfe mit den Tränen.
Später am Morgen laufe ich durch leichten Nieselregen zum großen Gewächshaus. Johanna hat ein Notfalltreffen einberufen.
Ich halte mich so gut es geht im Hintergrund und ziehe mich in eine der Ecken zwischen zwei ausladenden Pflanzen zurück, die in einem Topf mit Minerallösung wuchern. Ich brauche ein paar Minuten, bis ich Christina im Gelb der Amite auf der rechten Seite entdecke. Marcus dagegen ist nicht zu übersehen, denn er steht zusammen mit Johanna auf den Wurzeln des Riesenbaumes.
Johanna hat ihre Finger verschränkt und ihr Haar zurückgebunden. Die Verletzung, von der sie die Narbe hat, scheint auch ihr Auge in Mitleidenschaft gezogen zu haben– ihre Pupille ist so geweitet, dass sie fast die gesamte Iris verdeckt und ihr linkes Auge bewegt sich nicht synchron mit dem rechten Auge, als sie ihren Blick über die versammelten Amite schweifen lässt.
Aber es sind nicht nur Amite anwesend. Ich sehe Menschen mit kurz geschnittenen Haaren und straffen Haarknoten, die nur Altruan sein können. Dahinter stehen reihenweise Brillenträger– unverkennbar Ken. Unter ihnen entdecke ich Cara.
» Ich habe eine Nachricht aus der Stadt erhalten«, sagt Johanna, nachdem alle Gespräche verebbt sind. » Eine Nachricht, die ich euch allen gerne weitergeben möchte.«
Sie zupft am Saum ihres Shirts, dann verschränkt sie wieder ihre Finger. Sie wirkt nervös.
» Die Ferox haben sich mit den Fraktionslosen verbündet«, sagt sie. » Sie haben vor, die Ken in zwei Tagen anzugreifen. Sie wollen nicht nur zum Schlag gegen die feindliche Armee aus Ken und abtrünnigen Ferox ausholen, sondern auch gegen alle unschuldigen Ken. Auch vor ihrem gesammelten Wissen und allen Daten, in denen Jahre harter Arbeit und Forschung stecken, werden sie keinen Halt machen.«
Sie blickt zu Boden, atmet tief durch und fährt fort. » Ich bin mir bewusst, dass wir keinen Anführer anerkennen, also habe ich kein Recht, euch in dieser Rolle gegenüberzutreten«, sagt sie. » Aber ich hoffe, ihr seht es mir nach– nur dieses eine Mal–, wenn ich euch darum bitte, unsere früher gefällte Entscheidung, in dieser Sache unsere neutrale Stellung zu wahren, zu überdenken.«
Ein Raunen geht durch die Menge. Nicht wie bei den Ferox– dieses Raunen ist sanfter, es klingt wie ein Schwarm Vögel, der sich von den Ästen in den Himmel erhebt.
» Selbst wenn wir unsere Beziehung zu den Ken ganz außer Acht lassen, wissen wir immer noch besser als jede andere Fraktion, wie wichtig die Ken für unsere Gesellschaft sind«, sagt sie. » Wir müssen sie vor sinnlosem Gemetzel beschützen. In erster Linie, weil sie unsere Mitmenschen sind, aber auch weil wir ohne sie nicht überleben können. Ich schlage vor, dass wir als gewaltlose, neutrale Friedenswächter in die Stadt gehen, um die rohe Gewalt, die ohne Zweifel ausbrechen wird, irgendwie einzudämmen. Bitte lasst euch den Vorschlag durch den Kopf gehen.«
Feiner Regen legt sich auf die Glasplatten über unseren Köpfen. Johanna setzt sich auf eine Baumwurzel und wartet, aber
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