Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
hätte ich aufgelacht. Meine heldenhafte Tat, das einzig wirklich Wichtige, was ich jemals getan habe, halten sie für ein Verbrechen, das ich im Auftrag der Ken begangen habe.
» Die Simulation war nicht einfach so zu Ende«, sage ich. » Wir haben sie gestoppt undihr –«
Jack hebt die Hand. » Es interessiert mich nicht, was ihr jetzt zu sagen habt. Die Wahrheit wird bei eurer späteren Vernehmung ans Licht kommen. Wir geben euch das Wahrheitsserum.«
Christina hat mir von diesem Serum erzählt. Sie meinte, das Schlimmste an der Initiation bei den Candor sei, dass man das Serum verabreicht bekommt und dann vor der versammelten Fraktion die persönlichsten Fragen beantworten muss. Ich muss nicht erst lange in meinem Inneren nach den verborgensten, dunkelsten Geheimnissen suchen, um zu wissen, dass das Wahrheitsserum das Allerletzte ist, was ich jetzt gebrauchen kann.
» Wahrheitsserum?« Ich schüttle den Kopf. » Nein. Unter keinen Umständen.«
» Hast du etwas zu verbergen?«, fragt Jack mit hochgezogener Augenbraue.
Ich würde ihm gerne sagen, dass jeder, der einen Funken Würde im Leib hat, manche Dinge lieber für sich behalten möchte, aber ich will keinen Verdacht auf mich lenken. Also schüttle ich den Kopf.
» Dann ist ja alles in Ordnung.« Er wirft einen Blick auf seine Uhr. » Jetzt ist es Mittag. Die Befragung findet um sieben Uhr statt. Spart euch die Mühe– ihr braucht gar nicht erst zu versuchen, euch irgendwie darauf vorzubereiten. Unter demEinfluss des Serums werdet ihr nichts verschweigen können.«
Er macht auf dem Absatz kehrt und verlässt das Zimmer.
» Was für ein liebenswürdiger Mensch«, sagt Tobias.
Am frühen Nachmittag begleitet mich ein Trupp bewaffneter Ferox zu den Waschräumen. Ich lasse mir Zeit, warte, bis meine Hände unter dem heißen Wasserstrahl, der aus dem Hahn hervorschießt, rot anlaufen und starre auf mein eigenes Spiegelbild. Als ich noch bei den Altruan war und nie in den Spiegel sehen durfte, war ich immer wieder erstaunt, wie sich das Aussehen eines Menschen in drei Monaten verändern kann. Diesmal hatten nur wenige Tage ausgereicht, um mich völlig zu verwandeln.
Ich sehe älter aus. Vielleicht liegt es an meinen kurzen Haaren oder vielleicht auch daran, dass sich alles, was passiert ist, wie eine Maske über mein Gesicht gelegt hat. Ich hatte mich immer auf den Augenblick gefreut, wenn ich nicht mehr wie ein Kind aussehen würde. Aber jetzt spüre ich nur einen Kloß im Hals. Ich bin nicht mehr die Tochter, die meine Eltern kannten. Sie werden mein jetziges Ich nie zu sehen bekommen.
Ich wende mich vom Spiegel ab und drücke die Tür zum Gang auf. Als mich die Ferox wieder in unsere Zelle bringen, trödle ich ein wenig an der Tür. Tobias sieht genauso aus wie damals, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe– schwarzes T-Shirt, kurze Haare, ernste Miene. Bei seinem Anblick erfasste mich immer eine nervöse Aufregung. Ich erinnere mich, wie ich vor dem Trainingsraum für ein paar Sekunden nach seiner Hand griff und auch wie wir auf den Felsen über dem Abgrund saßen, und ich spüre ein brennendes Verlangen danach, in diese Zeiten zurückzukehren.
» Hunger?«, fragt er und bietet mir ein Sandwich an, das auf einem Teller neben ihm liegt.
Ich nehme es, setze mich und lehne den Kopf an seine Schulter. Wir können nichts tun außer warten, also warten wir. Wir essen, bis nichts mehr übrig ist. Wir sitzen da, bis es unbequem wird. Dann legen wir uns nebeneinander auf den Fußboden, Schulter an Schulter, und starren auf denselben weißen Fleck an der Decke.
» Gibt es Dinge, die du für dich behalten willst?«, fragt er.
» So einiges. Alles. Ich möchte nichts von dem, was wir erlebt haben, noch einmal durchleben.«
Er nickt. Dann schließt er die Augen und ich stelle mich schlafend. Im Zimmer gibt es keine Uhr, also kann ich die Minuten nicht zählen, die noch bleiben, bis wir befragt werden. In diesem Raum könnte die Zeit eigentlich stillstehen, wenn sie nicht zugleich so bleiern auf mir lasten würde. Sieben Uhr rückt unausweichlich näher, die Zeit drückt mich gegen die Bodenfliesen.
Vielleicht würden die zerrinnenden Minuten nicht so schwer sein, wenn ich nicht diese Schuld auf mich geladen hätte– die Schuld, die Wahrheit zu kennen und sie trotzdem tief in mir zu vergraben, dort, wo niemand sie sehen kann, nicht einmal Tobias. Vielleicht müsste ich mich gar nicht so sehr davor fürchten, die Dinge laut auszusprechen, vielleicht
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