Die Bestimmung
Mal wie ein Rausch.
Ein sehr lebhafter Gedanke brach sich plötzlich Bahn. Nilah sah, wie Liran den nächsten Pfeil in die Hände nahm. Ihr Herz schlug so wild, dass sie es bis in ihren Kopf spürte und da war noch mehr.
Nein, das durfte nicht sein. Alles, nur nicht das! Das war sicher so etwas wie das Stockholm-Syndrom . Man kam genau den Menschen zu nahe, entwickelte sogar tiefe Sympathie zu ihnen, die in Extremsituationen einfach bei einem waren. Sie hatte irgendwann einen Film darüber gesehen. Da liebten Entführungsopfer sogar irgendwann ihre Entführer. War das hier nicht ähnlich? Liran war in einer extremen, sehr gefährlichen Situation an ihrer Seite. Fühlte sie sich allein deshalb zu ihm hingezogen, weil er ihr so selbstverständlich beistand? Und weil er auch noch eine bizarre Figur war? Eine, die es in ihrer Welt nicht gab? War sie etwa dabei, sich in ein kompliziertes psychologisches Phänomen zu verlieben?
Nur eines brachte ihre Gedanken ins Stocken. Es waren nur zwei Wörter, zusammen ausgesprochen, eine Bezeichnung, und doch konnte sie nicht mehr davon lassen: Anam Ċara - Seelenfreund.
Sie erwiderte nichts auf seine Entschuldigung. Sie konnte nichts erwidern.
Entfesselt
Eine dunkle Wolkenbank zog über Hamburg. Es war, als würde man einen schwarzviolett gefärbten Deckel über einen riesigen summenden Sarg schieben, und auf einmal fiel ein erstickender grauweißer Schneeregen vom Himmel.
Nilah konnte nichts essen, während Liran wie ein Schaufelbagger ihre Bratlinge in sich hineinstopfte und zwischen dem Kauen anerkennend nickte. Das verstörende Kribbeln in ihrem Bauch wollte nicht aufhören. Sie glaubte daran zu verzweifeln, weil es keinen Ort gab, an dem sie sich davor verstecken konnte.
Als Liran sie fragte, ob sie denn gar nichts essen wolle, und hinzufügte, dass es wichtig sei, weil es einem die Kraft gebe, die man brauche, um gewissen Dingen gegenüberzutreten, da schüttelte sie den Kopf und ging unter einem gemurmelten Vorwand 'rauf in ihr Zimmer.
Ihre Hände zitterten. Alles im Raum wirkte, als würde nichts davon mehr ihr gehören. Seufzend setzte sie sich auf ihr Bett und sah aus dem Fenster. Ihr Leben war im Eimer. Genau so fühlte es sich an. Nichts war mehr an seinem Platz, alles war in einem Strudel, rauschte durch ihre Finger, und so oft sie auch die Faust schloss, um alles festzuhalten, all das Leben, das sie kannte, entglitt es ihr nur noch schneller. Was sollte sie nur tun? Was konnte sie tun? Die Welt würde nicht anhalten, nur weil ihr schwindelig davon wurde. Nilah ließ sich nach hinten fallen und starrte eine Weile an die Decke, dann drehte sie sich zur Seite und versuchte, auf ihrer Hand eine Antwort zu finden. Doch da war keine. Stattdessen beruhigte sich ihr Herz wie auf ein unhörbares Kommando. Sie strich über die Decke. Schlafen. Träumen. Und plötzlich wusste sie, was sie so beruhigte. Hier hatte er gelegen, war zwischen Leben und Tod gefangen gewesen, und trotz allem roch ihre Decke und Kissen nach ihm wie ein Lächeln, das man ganz tief im Bauch spürte. Wie einen Körper drückte sie das Kissen an ihr Gesicht und atmete ganz tief ein.
«Alles in Ordnung?»
Erschrocken fuhr sie hoch. Liran stand in der Tür und sah sie beunruhigt an. Nilah merkte, wie sich schreckliche Hitze in ihrem Kopf ausbreitete. Oh, Himmel, wie peinlich , dachte sie und setzte sich mit gespielter Ruhe auf.
«Ja! Ja, alles klar. Ich wollte nur einen Moment für mich haben», stammelte sie und stand auf, um ein paar Sachen auf ihrem Schreibtisch zu ordnen. Sie schob ein paar Dinge von links nach rechts, von hier nach dort, und dann sah sie es. Ein Infozettel der Schule lugte unter ein paar anderen hervor. Es brauchte einen langen Augenblick, bis ihr klar wurde, was dort lag. Die Lösung!
«Du sagtest, dass Du Waffen brauchst, die alt sind? Die schon einmal getötet haben?» Sie drehte sich um und hielt triumphierend das Blatt in der Hand. «Ich weiß jetzt, wo wir welche finden!»
Liran ließ es sich erklären, auch wenn er den hastigen Worten kaum folgen konnte, so
aufgeregt war Nilah. Sie saßen im Wohnzimmer.
Vor zwei Monaten war sie mit ihrer Klasse und der dazugehörigen Geschichtslehrerin ins Museum für Völkerkunde gegangen. Kunst und Krieg! Die zwei Gesichter aus dem Reich der Mitte! war das Motto der Wanderausstellung gewesen. Sie beschrieb viele Dinge, die sie dort gesehen hatte, das meiste davon wie jemand, der sich nicht entschließen konnte, wo Anfang
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