Die Betäubung: Roman (German Edition)
werden?«, fragt er.
»Erst kurz messen. Sie strullt wie ein Pferd.« Suzan bückt sich, um die Litermenge abzulesen, und tippt diese auf dem Schirm ein. Sjoerd entleert den Sammelbehälter in den Eimer.
»Überschwemmung!«, ruft der Chirurg. Der Brustkorb ist plötzlich bis an den Rand voll Blut. Es beginnt schon über den Tisch und auf den Boden zu schwappen. Flüche, Klammern, Absaugen. Jemand legt Moltontücher auf den Boden, um das Blut aufzunehmen. Sjoerd hängt unerschütterlich weitere Infusionsbeutel auf.
Es kehrt wieder Ruhe ein, aber die Patientin reagiert mit erhöhter Herzfrequenz.
»Anscheinend merkt sie nicht viel vom Schmerzmittel«, sagt Suzan. »Gib ihr noch etwas mehr.«
Der Opiatkoffer steht in einer Ecke des Saals, halb hinter dem Medizinschrank, auf dem Boden. Allard hockt davor und kramt darin herum. Er richtet sich auf und hält Suzan den geöffneten Koffer hin. In dem grauen Plastikschaum, in dem die Ampullen stehen sollten, ist ein dunkler, nasser Fleck zu sehen.
»Zerbrochen, denke ich«, sagt er. »Es ist ganz nass. Verflüchtigt sich das einfach, oder werden wir alle high davon?«
»Frag mal schnell in einem anderen OP. Wir brauchen jetzt Fentanyl.« Sie ist kurz angebunden, ungeduldig, fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Er bleibt lange weg; sie reißt ihm die Ampulle aus der Hand, sowie er zurück ist.
Die Aortaprothese liegt in einer Schale bereit: ein geriffelter Staubsaugerschlauch von gut einem halben Meter Länge, von dem Antibiotikum, in dem er schwimmt, leuchtend orange gefärbt. Alle Gefäße müssen Stück für Stück mit winzigen Stichen in diesen Schlauch eingenäht werden. Das nimmt Stunden in Anspruch. Kees flachst unermüdlich mit den Kardiotechnikern herum. Dann stellt er sich zu Suzan und blickt auf den Bildschirm.
»Das Herz ist jetzt ruhig. Ihr könnt kurz essen gehen.«
Sie hört, dass Allard hinter ihr hergeht. Sie spürt, wie müde sie ist. Bloß jetzt nicht wieder in diesem pseudogemütlichen Kaffeeraum sitzen und sich die starken Geschichten über heroische Eingriffe anhören müssen! Als die frohgemute Försterin durchgehackt wurde, hat sich bei ihr ein Gefühl der Entfremdung eingestellt, das sie nicht abschütteln kann. Was tun wir hier eigentlich, warum denken wir, dass die Frau wieder leben kann, wenn wir ihr diese dicke Vuvuzela in der Brust annähen? Hat sie Schmerzen verspürt, als ihre Herzfrequenz so hoch war? Wird sie je wieder aufwachen?
»Weißt du, dass in der Onkologie ein Hund herumläuft?«, sagt Allard. »Er kann Melanome diagnostizieren. Es gibt auch Hunde, die bei Patienten einen nahenden epileptischen Anfall wittern.«
Siehst du, denkt Suzan, das hier ist ein Irrenhaus, ein Horrorfilm. Ich träume.
Allard macht eine Tür auf und zieht sie mit hinein.
»Du kannst sie darauf abrichten, seltene Schmutzkeime zu entdecken«, fährt er fort. »Sie selbst schleppen natürlich auch allen möglichen Dreck mit auf die Station. Und dann die Bellerei – keine leichte Entscheidung, scheint mir.«
Jede Abteilung hat so ein Zimmerchen, das eigentlich keine Funktion hat und von allen vergessen wird. In diesem sind veraltete Computer und herrenlose Tastaturen abgestellt, Kartons voller Sonderdrucke von Artikeln, die niemand mehr lesen wird, kaputte Rollmatten, eine Schachtel Verbandsscheren und ein Rollstuhl ohne Fußstützen. In den lässt sich Allard fallen, der Stuhl rollt nach hinten und knallt gegen einen verbogenen Infusionsständer.
Er zieht Suzan auf seinen Schoß. Sie stößt sich an der Armlehne, fühlt seine warmen Schenkel unter ihrer dünnen OP-Hose. Das Licht ist automatisch angegangen, als sie hereingekommen sind, es wirft scharfe Schatten auf Allards Gesicht. Er zieht seinen Mundschutz ab – sie hört die Bänder reißen – und wirft ihn über die Schulter. Sie ist so müde, sie hat so schwere, ungehorsame Muskeln, dass sie sich nicht wehrt, als er den Bindegürtel ihrer Hose aufzieht und die Hand auf ihren nackten Bauch legt. Sie sieht seine Füße weit auseinander auf dem Boden stehen. Er trägt abartig dicke Socken in seinen OP-Clogs. Unterdessen schwatzt er weiter, als wolle er verhindern, dass sie etwas sagt. Braucht er gar nicht, denkt sie, dafür bin ich zu müde, mir würde kein Wort einfallen.
»Das bedeutet nichts, keine Angst. Nur kurz zusammensitzen. Gleich machen wir wieder weiter. Nur kurz deinen Bauch fühlen. Weißt du, dass ich jetzt eine Freundin habe, ein ganz liebes Mädchen. Es ist mir ernst mit ihr,
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