Die Betäubung: Roman (German Edition)
mitfliegen?«
Sie schüttelt den Kopf und zeigt nach unten. Pflichten. Eine Horrorvorstellung, in dieses Ungetüm zu steigen, das ohrenbetäubende Röhren des Motors zu hören und zu spüren, wie man sich vom Boden löst, nein, bloß nicht. Luc kommt mit einer orangefarbenen Weste in der Hand zu Allard herüber, die er anziehen muss. Suzan winkt den beiden Männern kurz zu und verschwindet wieder ins Treppenhaus.
Endlich sitzt sie an ihrem Computer. Noch bevor sie die Datei mit den Fragelisten geöffnet hat, hört sie das Stampfen des wegfliegenden Hubschraubers. Sie blickt dem gelben Insekt auf seinem Flug über die Stadt nach, hin zu irgendeinem Unheilsort, wo Luc und Allard hinausspringen werden, um Leben zu retten. Wenn das gelingt, fährt später der Krankenwagen bei der Notaufnahme vor, wenn nicht, folgt ein anderes Szenario. Abstürzen, denkt sie, lass dieses gelbe Biest abstürzen, damit alles vorbei ist.
Tjalling streckt den Kopf zur halb geöffneten Tür herein.
»Kaffee?« Schon sitzt er neben ihr und schaut mit auf den Computerbildschirm.
»Ich hab noch.« Diese unerbetene Nähe würde sie von sonst keinem Kollegen ertragen. Bei Tjalling ist es anders, er ist so bescheiden und zurückhaltend, dass sie seine Gegenwart nicht als Verletzung ihres Territoriums empfindet. Sie freut sich, dass er da ist.
»Schöne Liste«, sagt er. »Ist alles drin: Schmerzen, Lähmung, Lärm, Stimmen, damit verbundene Emotionen. Man darf sich das gar nicht vorstellen. Grauenvoll, dass so etwas in unserem Beisein passieren kann.«
»Man scheint das aber schon verhindern zu können, soweit ich der Literatur entnommen habe. Man muss mit den Anästhetika großzügig sein und mit den Muskelrelaxanzien knauserig.«
»Man bringt sie dem Tod nahe«, sagt Tjalling ernst. »Je stärker man betäubt, desto tiefer taucht der Patient in einen Zustand ab, den man nicht mehr Leben nennen kann. Das ist doch der eigentliche Kern unseres Metiers, dass wir die Menschen am Rande des Todes schweben lassen, dort, wo man nichts mehr spürt, wohin kein Reiz mehr vordringt. Und dass dann wir für den Fortgang der lebenswichtigen Prozesse sorgen, künstlich, anstelle des Patienten. Für ein paar Stunden sind wir so etwas wie sein extrakorporärer Hirnstamm. Wenn alles vollbracht ist, holen wir den Patienten aus dem Totenreich zurück. Bist du selbst schon einmal unter Narkose gewesen?«
Suzan schüttelt den Kopf.
»Auch keine Epiduralanästhesie bei der Entbindung?«
»Nein, bloß nicht, dafür war ich überhaupt nicht zu haben. Die Herumstocherei in meinem Rücken fand ich viel zu riskant. Und du?«
»Mandeloperation, als ich klein war. Eine traumatische Erfahrung, ich kann diese Gummimaske heute noch riechen. Du wurdest festgehalten, bekamst etwas Lachgas, und sobald du geschrien hast, haben sie dir die Zange in den Rachen geschoben. Ein Skandal, dass diese Folter so lange für völlig normal gehalten wurde.« Er verstummt für einen Moment und kneift die Augen zu.
»Später hatte ich mal eine Vollnarkose, bei der Blinddarmoperation. Herrlich. Warme Decken, liebe Worte, einfach weggleiten, nichts mehr müssen. Ich fand das großartig.«
»Hattest du keine Angst?«
»Wovor? Dass ich nicht mehr aufwachen würde? Nein, ich hatte Vertrauen zu dem Anästhesisten. Ich habe daraus gelernt, und versuche es heute auch so zu machen. Beruhigen, das Gefühl vermitteln, dass man jetzt alles übernimmt, und vor allem ganz lieb zum Patienten sein. Das ist wichtig. Man muss für diesen einen Moment über dem Tohuwabohu und der Anspannung im OP stehen und darf es sich niemals anmerken lassen, wenn man beunruhigt oder verärgert ist, sondern muss sich ganz auf den Patienten konzentrieren. Und dann lässt man ihn gehen.«
»Ins Totenreich«, sagt Suzan lächelnd.
Auf dem Flur werden Schritte laut. Jemand ruft. Suzan und Tjalling erheben sich, um nachzuschauen, was los ist. Draußen steht Ab Taselaar, der mit erhöhter Lautstärke in sein Handy spricht.
»Nein! Mach nichts! Bleib stehen, wo du bist. Ich gebe dir Bescheid, wenn sie so weit sind. Behalt das Telefon in der Hand. Beruhige dich. Ich rufe jetzt sofort die Polizei an. Dann melde ich mich wieder bei dir. Bis gleich.«
Taselaar drückt konzentriert auf die Zifferntasten seines Telefons. Seine graublonde Stirntolle steht senkrecht in die Höhe. Er hebt die Hand, um Tjalling und Suzan zu signalisieren, dass sie kurz warten, kurz still sein sollen.
»Taselaar hier, OP-Koordinator. Wir haben
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