Die Bettelprophetin
Hofeinfahrt ein Heiligenhäuschen hatte errichten lassen. Theres wusste inzwischen, dass der Voglerhof schon bessere Zeiten gesehen und einstmals zu den reichsten Einödhöfen der Gegend gezählt hatte. Vor dreißig Jahren, nach der ersten großen Hungersnot im Lande, hatte der Metzler ihn von seinem Vater übernommen, als freier Bauer, da die Leibeigenschaft nach König Wilhelms Regierungsantritt aufgehoben worden war. Leider hatte sein Vater ihm nichts als Schulden überlassen, nachdem er in jenen Hungerjahren auf einen windigen Getreidegroßhändler hereingefallen war. Die hohen Ablösesummen, die Metzler wie alle Bauern in Raten abstottern musste, um in Besitz seines Grund und Bodens zu kommen, taten ein Übriges. Die Hofwirtschaft war nie wieder so recht auf die Beine gekommen, und man hielt sich seither, vom Kind bis zu den Alten, mit zusätzlicher Heimarbeit über Wasser.
So bibelfest der alte Metzler inzwischen war, so trinkfest war er nach wie vor, und so erlebte Theres gleich am ersten Abend, was sie bereits als Gerücht gehört hatte: dass nach der abendlichen Gebetsstunde nicht nur geistliches Liedgut gesungen wurde, sondern häufig auch getanzt und ordentlich gebechert. Die Einzige, die sich hierin zurückhielt, war die Metzlerin. Sie war das genaue Gegenstück zu ihrem Mann. Zartgliedrig, fast schwächlich für eine Bauersfrau wirkte sie, und manchmal hatte Theres den Eindruck, sie fürchte sich vor ihrem Mann.Wenn der in donnerndem Bass seine Anweisungen gab, zuckte sie jedes Mal zusammen, und niemand hatte sie jemals Widerworte geben hören.
In jungen Jahren war Else Metzler ganz gewiss eine Schönheit gewesen. Jetzt indessen hatte die Sonne ihr Gesicht faltig gegerbt, im dunklen Haar schimmerten graue Strähnen, und sie ging krumm von der Arbeit und ihren zahlreichen Geburten. Es gab das Gerücht, Alfons Metzler habe sie einstmals in Ulm aus einem heimlichen Hurenhaus freigekauft, aber Theres mochte das nicht glauben. Schon allein, weil Lustdirnen in der Regel ein freches Mundwerk hatten. Bei diesem Gedanken war ihr unweigerlich Sophie in den Sinn gekommen, ihre Sophie, die nie ein Blatt vor den Mund nahm. Wie es ihr wohl mit ihrem Friedemann in Stuttgart ging?
Auch von den Leuten am Voglerhof wurde Theres bedrängt, die Gebetsstunden zu halten. Sie traute ihren Augen nicht, als sie am ersten Abend in der Stube neben Kruzifix und Marienbildnis das Bild der heiligen Theresa von Ávila entdeckte!
«Hab ich letzte Woche erst erstanden.» Der Metzlerbauer grinste breit. «Net schlecht gemalt, deine Namenspatronin, sieht dir fast gleich, gell? Sie soll dir Kraft geben.»
Nach und nach versammelten sich an die dreißig Menschen in der geräumigen Wohnstube mit den vielen kleinen Fenstern, entzündeten die Kerzen auf der Anrichte und stimmten das Eröffnungslied an. Da aller Blicke auf sie gerichtet waren, überwand Theres ihre anfängliche Scheu und sprach das Gebet, um anschließend die heilige Theresa um ihre Fürsprache bei Gott zu bitten. Als sie am Ende alle zusammen das Abendlied
In dieser Nacht sei du mir Schirm und Wacht
sangen, sah Theres hinter ihren geschlossenen Augenlidern deutlich das zufriedene Gesicht von Patriz Seibold.
Sie gewöhnte sich daran, die häuslichen Abendandachten zuleiten, und ihr gefiel dabei, wie viel und wie inbrünstig gesungen wurde. Mitunter entwickelten sich die Betstunden auch zu regelrechten Gesprächsrunden, wenn die anderen sie drängten, aus ihrem Leben zu erzählen, von den guten und den schweren Stunden darin oder auch von ihren Begegnungen mit Patriz Seibold. Es gab Tage, da fand sie Spaß daran. Dann schmückte sie ihre Erlebnisse mit lebhaften Gesten und phantasievollen Einzelheiten aus, und der Bauer sagte ihr einmal voller Bewunderung, an ihr sei eine Dichterin verlorengegangen. An anderen Tagen wiederum wehrte Theres ab und bat stattdessen den Hausherrn, einen Psalm zu lesen.
Zu ihrer Erleichterung war sie hier draußen ein wenig aus dem Dunstkreis von Pauline entschwunden. Aber womit Theres nicht gerechnet hatte: Viele Menschen kamen nun auf den Voglerhof, anstatt den Gottesdienst in Sankt Peter und Paul zu besuchen – zunächst nur sonntags, dann auch wochentags. In Weissenau nämlich hatte das Dekanat einen einstweiligen Pfarrverweser eingesetzt namens Nesensohn, der hetzte wie ein Berserker gegen den Kreis um den Voglerhof. Seine Häme richtete sich in der Hauptsache gegen Theres und die Metzlersfamilie. Gleich bei seiner ersten Christenlehre
Weitere Kostenlose Bücher