Die Bettelprophetin
Wochen der Ungewissheit auf sie warteten. Zum einen, weil es mit Else Metzler unter einem Dach unerträglich war. Die Frau sprach nur das Nötigste mit ihr, bedachte sie dabei mit eisigen Blicken, und einmal, in einem unbeobachteten Moment, zischte sie: «Scher dich endlich zum Teufel. Sonst tu ich’s nochmal! – Und wenn du’s dem Metzler sagst, bring ich dich um!»
Der blanke Hass sprach aus dem verhärmten Gesicht, und Theres zweifelte keinen Moment, dass diese Frau es ernst meinte. Trotzdem tat Else ihr noch immer eher leid, als dass sie Angst vor ihr empfunden hätte.
Das andere war Pauline. Die bedrängte sie täglich heftiger, wieder die Andachten zu leiten, zu denen nach wie vor Hundertevon Menschen strömten. Am Ende war Theres fast grob geworden.
«Ihr braucht mich nicht! Ihr braucht keine – keine Prophetin, keine Heilige!» Sie schob Pauline von sich weg. «Seid ihr nicht selber fest genug im Glauben? Lass mich gehen.»
Als dann die Nachricht eintraf, im Dekanat Rottenburg habe man dem Pfarrer zwar Gehör geschenkt, sich aber geweigert, ihn öffentlich zu verteidigen, da wurde klar: Theres musste ihr Bündel packen. Am nächsten Morgen schon sollte sie los, auf einen kleinen Hof nach Eschach zu.
«Ich will mit dir kommen!»
Ohne anzuklopfen, war Pauline in ihre Kammer gestürzt und vor ihr auf die Knie gefallen.
«Das geht nicht, und das weißt du auch.»
«Bitte!», flehte sie. Ihr ohnehin blasses Gesicht war jetzt kreideweiß, unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Regelrecht gespenstisch sah das aus.
«Bitte, Theres! Du darfst mich nicht verlassen. Gott tät das nicht wollen! Sonst hätte er dich nicht hierhergeführt nach so vielen Jahren. Er war es doch, der uns wieder zusammengebracht hat.»
«Steh auf, Pauline.»
Stattdessen rutschte das Mädchen auf den Knien zu Theres und hielt deren Beine umklammert.
«Pauline! Lass mich los!»
«Ich kann nicht. Ohne dich bin ich verloren. Siehst du denn nicht, dass der Böse mich unablässig in Versuchung führt? Ich kann ihm nicht standhalten ohne dich.»
«Was redest du da? Nicht ich kann dich vor dem Bösen bewahren, sondern allein Gott. Und jetzt steh endlich auf. Wer bin ich, dass du vor mir niederkniest?»
Mit aller Kraft löste sie Paulines Arme von ihren Beinen undzerrte sie in die Höhe. Dabei entdeckte sie ein zusammengefaltetes Papier. Es musste Pauline aus der Schürzentasche gefallen sein. Sie bückte sich und hob es auf.
«Du hast was verloren», murmelte sie. Dann stutzte sie – ihr Name stand mit schwungvollen Buchstaben auf das Papier geschrieben, der rote Siegellack war erbrochen.
«Was ist das für ein Brief?», fragte Theres ungläubig. Sie hatte in Patriz Seibolds Studierstube genügend Notizen und Predigtentwürfe von ihm gesehen, um auf Anhieb seine Handschrift zu erkennen.
Pauline brach in Tränen aus.
«Wo hast du das her?» Theres packte sie bei den Schultern. «Los, gib Antwort!»
«Das ist – das ist vom Pfarrer. Er hat’s mir gegeben, bevor er nach Rottenburg ist. Ich sollt es dir überbringen, sobald du wieder freikommst.»
«Warum hast du’s dann nicht getan?»
«Weil ich …» Sie schluchzte laut auf. «Verzeih mir, Theres, bitte verzeih mir! Ich hatte solche Angst, dass du uns dann gleich verlässt – mich verlässt! Weil doch der Pfarrer und du … weil doch ihr beide …»
«Was?»
«Ich bin doch net blind. Ich seh doch, dass du ihn liebst. Und dass auch er …» Sie verstummte. Dann wandte sie sich um und rannte aus der Kammer.
Theres ließ sich auf die Kante ihres Bettes sinken. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie kaum das Blatt Papier aufzufalten vermochte.
Liebe Theres,
las sie
. Auch diese Zeit der Prüfung werden wir durchstehen. Ich weiß, dass du stark bist. Ich werde es ebenfalls sein.
Ich bin nun auf dem Weg ins Dekanat Rottenburg, um dort Verbündete zu finden. Es wird nicht leicht sein, denn ich stehe mit meinen Ansichten ziemlich allein da.
Wie gern hätte ich bis zu deiner Rückkehr auf den Voglerhof gewartet, aber die Zeit drängt. Ich bin sicher, der brave Metzler wird dich mit Gottes Hilfe rausholen aus deinem Gefängnis im Bruderhaus.
Jetzt, wo du diese Zeilen liest, bist du frei. Frei auch, um zu entscheiden, ob du bei den Leuten vom Voglerhof bleibst oder fortgehst an einen Ort, wo du nicht mehr verfolgt wirst. Hattest du nicht von einer guten Freundin erzählt, die in der Hauptstadt lebt?
Mein Verstand sagt mir: Gehe dorthin, um in
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