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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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ersten Kreuzung, stapfte sie wortlos neben dem Pfarrer her. Auch Seibold schien in Gedanken versunken. Nur das Knirschen der vereisten Schneedecke unter ihren Sohlen war zu hören.
    Oben auf der Kuppe blieb er stehen.
    «Sieh mal, der See!»
    Zwischen der winterlichen Hügellandschaft lag der Bodensee unter einer dünnen weißen Nebelschicht. Dahinter ragtenschroff die Gipfel der Alpen mit ihren Felsen und Gletschern in den tiefblauen Himmel, so nahe, dass man sie hätte berühren mögen.
    «Ist Gottes Schöpfung nicht wunderschön?»
    «Ja, das ist sie», erwiderte Theres leise.
    Sie sahen sich an, und Theres fürchtete, in seinem hellen Blick zu ertrinken. Rasch wandte sie den Kopf zur Seite.
    «Übrigens», Seibold räusperte sich, «es ist mir ernst, das Versprechen an den Inspektor vom Correctionshaus. Ich möchte dich außer Gefahr bringen, nach Stuttgart zu deiner Freundin. Ich selbst könnt mich dort um eine Audienz beim König bemühen. Wilhelm gilt als sehr liberal in Glaubensdingen. Er ist der Einzige, der noch bewirken kann, dass ich wieder zu meiner Gemeinde zurückkehren darf.»
    «Zum König», wiederholte sie ungläubig.
    «Warum nicht? Ein Versuch wäre es wert. Gerade, weil er nichts mit der katholischen Kirche zu tun hat.»
    «Haben Sie denn überhaupt noch Hoffnung, nach allem, was geschehen ist?»
    «Ich habe Hoffnung, solange ich lebe. Auch wenn die Zweifel stärker werden.» Er biss sich auf die Lippen. «Weißt du, manchmal sehne ich mich nach früher zurück. In die Zeit, als ich noch ein junger Mann war und zum Priester geweiht wurde. Da gab es diese ganzen Kirchenstreitigkeiten noch nicht. Da halfen sich die Evangelischen und Katholischen gegenseitig im Kirchenchor mit den Sängern aus, in den Trinkstuben und Zunfthäusern hockte man bunt durchmischt beieinander, und in Notzeiten hat man sogar Kirchenräume und Glockengeläut miteinander geteilt. Wie soll das Volk Kraft aus dem Glauben schöpfen, wenn sich die Geistlichen gegenseitig schier zerfleischen in ihren Streitereien?»
    Er schlug den breiteren der beiden Wege ein, der auf derHöhe blieb und immer neue, herrliche Ausblicke eröffnete. Doch Patriz Seibold schien plötzlich kein Auge mehr dafür zu haben.
    «Ihre Zweifel   …», begann Theres. «Haben Sie auch Zweifel daran, dass
wir
das Richtige tun? Ich meine damit: Sie und ich und die Leute um den Voglerhof.»
    «Du meinst die Theresianer, sprich’s nur aus. Du darfst dir ruhig zugestehen, dass du berühmt geworden bist.» Er blieb stehen und nahm ihre Hand. «Hast
du
denn Zweifel?»
    «Manchmal. Wenn Pauline nur noch von ihren Dämonen spricht oder die Lisette sich ganz willentlich in ihren Dämmerzustand versetzt und darin den Heiligen begegnet. Da frag ich mich, ob der Glaube bei einigen nicht zu Einbildungen, zu überhitzten Phantastereien führt und damit weg vom Eigentlichen.»
    Er nickte. «Vielleicht ist das ja die Reaktion auf die ständigen Verbote von oben. Auch ich leide darunter. Unter dem Deckmantel der reinen katholischen Lehre sollen wir Pfarrer kein Wirtshaus mehr besuchen dürfen, keine Tanz- und Theatervergnügungen, keinen Bürgerball und kein Billardspiel. Grad als ob wir ja nicht mehr mit den Menschen in Berührung kommen sollten. Selbst in den eigenen vier Wänden sollen wir statt in Hemdsärmeln in klerikaler Kleidung gehen, und bestimmte Bücher sollen wir aus unseren Bibliotheken entfernen.»
    Theres mochte es, wenn er sich so ernsthaft mit ihr unterhielt. Bei ihm hatte sie stets das Gefühl, angenommen zu werden, so, wie sie war. Nur – für dieses Mal vermochte sie seinen Gedanken kaum zu folgen, denn er stand noch immer da und hielt ihre Hand. Mit seinen beiden warmen, festen Händen.
    «Sollen wir weitergehen?», fragte sie.
    «Ja.» Zu ihrer Überraschung ließ er sie selbst beim Gehennicht los, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, wenn ein Pfarrer mit einer jungen Frau Hand in Hand spazieren ging.
    «Unsere katholische Kirche ist erstarrt in ihren Dogmen und vergisst dabei das Wichtigste: ihre Herde, das Volk. Hat etwa unsere Kirche in den letzten Jahren auch nur ein winziges Stück des allgegenwärtigen Elends von der Erde tilgen können? Oder eine andere Sache: Warum lässt sie keine Frauen als Priester, warum keine Heirat unter Geistlichen zu? Weißt du, Theres, da imponieren mir die freien Kirchen in Amerika. Dort ist so vieles in Bewegung.»
    «Aber die Ehelosigkeit der Priester ist doch ein Gebot Gottes», warf Theres erstaunt

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