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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Sicherheit zu sein. Mein Herz sagt mir: Bleibe im Oberland und warte auf mich. Dazwischen springt ein böses Teufelchen hin und her, zieht und zerrt, lässt mich kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Einzig meine Hoffnung, dass sich alles zum Guten wendet, kann dieser Schelm mir nicht nehmen. Und vielleicht gibt es ja bald schon einen Ausweg, den ich bloß noch nicht zu erkennen vermag.
    Gott schütze dich auf all deinen Wegen. Dass er uns bald ein Wiedersehen schenkt, das wünscht sich von ganzem Herzen – dein Patriz Seibold.
     
    Wieder und wieder, jeden Tag aufs Neue, las sie diese Zeilen, während sie unterwegs war von einem Unterschlupf zum nächsten. Mal kam sie bei reichen Einödbauern unter, mal bei Kleinbauern mit wenig Land und einer großen Zahl von hungrigen Mäulern, die zu stopfen waren; mal bei Handwerkern, mal bei einem Müller oder Kaufmann. Immer nur zwei, drei Tage blieb sie, danach ging es weiter zum nächsten Obdach. Jeder nahm sie mit offenen Armen auf und, wie ihrschien, auch voller Stolz, um alles, was man hatte, mit ihr zu teilen. Einige Male gelangte sie auch in die Hütten bettelarmer Häusler ohne Acker und Arbeit, deren Kinder die Krätze hatten und bellenden Husten und deren Brotreste und einziges Bett sie nicht annehmen wollte und schließlich doch musste.
    Wie in einem Spinnennetz fühlte sie sich, musste von Knoten zu Knoten krabbeln, ohne zu wissen, wie das Netz im Ganzen aussah. Das Einzige, was sich jeden Tag gleich blieb, war dieser Brief, dessen Worte sie inzwischen auswendig kannte bis in die Züge der einzelnen Buchstaben und den sie doch jeden Tag wieder herauszog und vor Augen hielt. Trotzdem dauerte es lange, bis sie erkannte: Da sprach kein Pfarrer zu seinem Gemeindemitglied, kein Hirte zu seinem Schützling, da war nicht von Psalmen und Gebeten und Gleichnissen die Rede. Nein, das hier war der Brief eines Mannes an eine Frau. Mehr noch – und hatte es Pauline nicht selbst ausgesprochen? – glaubte sie darin die Worte eines Liebenden an die Geliebte zu entdecken.
     
    Zu Beginn des neuen Jahres kam sie in ein Dorf oben in den Hügeln, zur Familie eines Forstwarts. Das Wetter hatte umgeschlagen, ein blauer Himmel spannte sich über die frostig weiße Landschaft, unten im Tal lag dichter Nebel. Bis jetzt hatte der Arm der Obrigkeit sie nicht zu fassen bekommen, doch ihre Unruhe wuchs: Wie lange noch sollte das so weitergehen? Oft erwachte sie mitten in der Nacht und wusste nicht, wo sie war.
    Am Nachmittag stand sie mit der Hausfrau am Herd, um das Abendessen zuzubereiten. Draußen, vor dem Küchenfenster, schickte die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen über den mit einem Hauch von Schnee bestäubten Obstgarten. DieJüngsten der sechs Kinder tobten über die Wiese und spielten Fangen. Plötzlich hielten sie inne, winkten und lachten, verschwanden dann aus dem Viereck des Küchenfensters.
    Auch Margrit, die Frau des Forstwarts, hatte den Kopf gehoben und lauschte nun. Ihre Schultern waren gespannt.
    «Da kommt wer», murmelte sie.
    «Wohin?», fragte Theres. Sie hatte diese Prozedur in den letzten zwei Wochen nun schon einige Male mitgemacht. Jeder Fremde, der vorbeikam, konnte ein Polizeidiener oder Büttel sein, jeder Bekannte ein Spitzel. Oftmals hatten ihre Gastgeber vor Theres’ Entdeckung noch mehr Angst als sie selbst, und schon allein aus diesem Grund war ihnen nicht zuzumuten, sie länger als ein, zwei Tage zu verstecken.
    «In die Vorratskammer!»
    Kaum hatte Theres die Tür hinter sich zugezogen, als das Stimmengewirr vor dem Haus lauter wurde, von fröhlichem Lachen durchsetzt.
    «Theres, kannst rauskommen!», hörte sie den Hausvater rufen. «Rasch, komm heraus.»
    Draußen auf dem Hof, umringt von der Familie des Forstwarts, stand Patriz Seibold. Theres verharrte fast erschrocken im Türrahmen.
    «Theres!»
    Er trat auf sie zu und breitete die Arme aus. Ohne einen Augenblick nachzudenken, wie das auf die Umstehenden wirken könnte, warf sie sich an seine Brust, spürte den kalten Stoff seines Wollmantels an der Wange und musste an sich halten, nicht zu weinen. Er zog sie fest an sich.
    «Entschuldigen Sie!» Theres machte sich los und wischte sich über die Augen. «Das ist nur – weil ich mich so freue!»
    «Ich auch, Theres, ich auch! Es war übrigens gar nicht so einfach, dich zu finden.»
    «So soll’s auch sein», erwiderte der Forstwart zufrieden.
    «Kommet Se, Herr Pfarrer.» Margrit schob ihn ins Haus. «Schnell nei ins Warme.»
    In der

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