Die Bettelprophetin
Buchstaben angeblich allzu schlampig geraten waren, für Urle, weil er eine falsche Stelle aus dem Jesus Syrach abgeschrieben hatte.
«Im Gegenteil, der Jodok hasst mich.» Urle rollte mit seinen großen Augen. «Der Marder hat ihn nämlich gezwungen, neben mir zu sitzen, damit der Jodok nicht so viel Blödsinn macht. Mir ist’s gleich. Neben mir will eh keiner sitzen.»
Er nahm Theres den Griffel aus der Hand und malte ihr ein großes und ein kleines F vor.
«So musst du’s machen. Sonst lässt er dich auch noch während des Mittagessens hier hocken.»
«Danke.» Sie zögerte. «Hast du – hast du denn gar keine Freunde unter den Buben?»
Jetzt grinste Urle sein breites Grinsen. «Ich hab doch den Jodok. Besser einen guten Feind als einen schlechten Freund. Von einem Feind kannst manchmal mehr lernen. Hör mal, Theres: Wenn du willst, üb ich mit dir Lesen und Schreiben.»
«Wie soll das gehen? Wir sind doch nie beisammen.»
«Ach, das findet sich schon. Zum Beispiel nachmittags im Hof, wenn die Susanna mal Aufsicht hat. Oder am Wochenend, nach der Vesper. Wirst sehen, es ist ganz leicht.»
Nie zuvor in ihrem Leben hatte Theres derartig häufig beten müssen wie hier in Weingarten. An den Tagen, an denen sie nicht die Predigt in Sankt Martin besuchten, ging es stattdessen zur Morgenandacht. Gemeinsam mit den Waisen und dem Hauspersonal marschierten sie dann hinüber zum Betsaal im Hauptinstitut, einem weißgetünchten Raum mit Kanzel und schlichtem Kruzifix über dem ebenso schlichten Altar, der zugleich der evangelischen Gemeinde als Kirchenraum diente. Oberinspektor Fritz war nämlich nicht nur Hausgeistlicher für die Anstaltszöglinge, sondern zugleich Pfarrherr der Waisenhaus-Pfarrei Altdorf, einer der wenigen evangelischen Gemeinden im Oberschwäbischen. Auch Rosina gehörte dieser kleinen Gemeinde an, und aus diesem Grund hatte Theres sie auch nie im Gottesdienst zu Sankt Martin gesehen.
Während der Andacht pflegte eines der Kinder vorzusprechen, die anderen beteten nach: erst den Morgensegen, hernach Glaubensbekenntnis, Vaterunser und einen Psalm. Anschließend eine Lesung aus der Heiligen Schrift, zumeist aus den Sprüchen Salomos oder den vier Evangelien. Dasselbedann, wenn auch verkürzt, vor dem Mittagessen. Nach dem Tischgebet endlich wurde das Essen aufgetragen, wofür ihnen keine halbe Stunde Zeit vergönnt war, bevor es mit einem Danket dem Herrn und Vaterunser abgeschlossen wurde. Auch das Abendessen wurde von Gebeten begleitet, wobei hier zusätzlich noch ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen und danach gesungen wurde. Davor hatten sie schon eine Stunde lang katechetische Belehrungen samt Examinierung über sich ergehen lassen müssen, was durch Oberinspektor Fritz höchstselbst erfolgte. Vor der Nachtruhe dann endete der Tag mit dem Abendsegen, dem Vaterunser, einigen kürzeren Nachtgebeten aus dem Waisengebetbüchlein samt Psalmen und Rezitationen aus dem Katechismus.
Am Wochenende und an den Feiertagen war es noch schlimmer. Samstags besuchten sie die Vesper und lernten im Anschluss daran Teile des Evangeliums auswendig. Nach dem Abendessen dann las der Oberinspektor ihnen eine Predigt aus der Hauspostille vor, um einen Teil der Kinder hernach zu prüfen, abschließend gab es die üblichen Gebete und Lieder. Sonntags, nach der heiligen Messe in Sankt Martin, wurde im Betsaal das Evangelium rezitiert, die Kinder bezüglich der Sonntagspredigt abgefragt, dann wieder gebetet und gesungen. Den Nachmittag verbrachten sie erst bei der Sonntagsvesper, dann mit dem Auswendiglernen von Psalmen, Sprüchen und Lektionen, um sich um vier Uhr schließlich zu Übungen in Bibelkunde, biblischer Geschichte und Katechismus einzufinden, bevor es zum Abendgottesdienst ging. Höchst wichtig waren bei alldem die Bittgebete: Großzügige Bürger aus dem Umland, die dem Waisenhaus Geld- oder Sachspenden zukommen ließen, durften als Gegenleistung mit den Fürbitten der Anstaltskinder rechnen. Und sie, als arme Kinder, so ließ es der Herr Pfarrer und Oberinspektor in seinen Reden immerwieder durchschimmern, würden auf diese Weise lernen, dass alles, was ihnen gegeben sei, durch die Wohltat des Staates und großherziger Bürger gegeben sei.
«In Ewigkeit dankbar und Amen», hatte Urle einmal anlässlich solcher Worte gemurmelt – leider so laut, dass es dem Heinzelmann zu Ohren gekommen war, was dem armen Urle drei schmerzhafte Rutenstreiche eingebracht hatte.
Auch Theres wurde während all dieser
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