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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Wolkendecke zu stoßen. Viel zu kühl war es heut für einen Tag Ende September. Oder lag es an dieser Unruhe, die sie mit einem Mal ergriff? Immer wieder ging ihr Blick in Richtung Urle, der nicht weit von ihr zwischen Bartlome und Jodok am Tisch kauerte. Mit wachsbleichem Gesicht stierte er ins Leere, die Hände hielt er über der Tischkante zusammengelegt, als bete er. Ganz alt sah er mit einem Mal aus. Theres winkte ihm zu, doch er schien es nicht mal zu bemerken.
    Das Bimmeln eines Glöckchens ließ das allseitige Gemurmel verstummen, und Oberinspektor Fritz betrat das Rednerpodest.
    «Von ganzem Herzen möchte ich Sie hier im königlichen Waiseninstitut begrüßen, zu diesem Ehrentage unseres hochverehrten und geliebten König Wilhelms. Ich danke Ihnen allen, dass Sie den Weg hierhergefunden haben, und kann kaum genug betonen, wie sehr uns Ihre Anteilnahme am Geschick dieser unserer Anstalt am Herzen liegt.»
    Daraufhin folgte ein langer, umständlicher Bericht über die ökonomischen und pädagogischen Erfolge der vergangenen Monate, unter besonderer Betonung der zur Blüte gelangten anstaltseigenen Seidenraupenzucht, bis die ersten Gäste zu gähnen begannen.
    «Hoffentlich ist der bald fertig mit seinem Gefasel», flüsterte Sophie Theres ins Ohr, «ich hab einen verdammten Hunger.»
    «So möchten wir Ihnen nun also», ein seliges Lächeln trat auf das fleischige Gesicht des Oberinspektors, «mit dieser öffentlichen Mittagsspeisung ein Bild davon vermitteln, welche Früchte unsere Fürsorge getragen hat, gestützt von Ihren großzügigen Spenden. Denn mag auch die Arbeit für und an diesenKindern von manch einem als gering geachtet werden, so hat sie doch desto mehr Wert und Ansehen in den Augen Gottes. Denken wir nur an die Worte unseres Heilands, wenn dereinst beim Weltgericht über uns Recht gesprochen wird:
Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Und ebendiese Geringsten, diese Ärmsten der Kinder Gottes haben wir bei uns aufgenommen. Die allermeisten von ihnen sind bedauernswerte Geschöpfe, ohne Eltern, ohne Freunde und Anverwandte – niemand, der sie tröstet und leitet. Kein warmer Herd, kein schützendes Dach überm Kopf wären ihnen vergönnt, gäbe es nicht Menschen wie Sie und mich, die sich um sie sorgten.»
    Drüben an der Ehrentafel zückten die ersten Damen ihre Taschentücher.
    «Andere, wie unsere Vagantenkinder, hat es womöglich noch schlimmer getroffen: Von den eigenen Eltern wurden sie sich selbst überlassen, bis hin zur völligen Verwahrlosung. Darf man solche Menschenkinder einfach aufgeben? Ich denke, Sie alle werden mir zustimmen, wenn ich sage: Nein! Unsere Christenpflicht ist es, Sorge zu tragen für das geistige wie für das leibliche Wohl dieser unserer Zöglinge. Durch liebreichen Zuspruch, durch strenge Aufmunterung wollen wir sie lenken hin zu Ordnung, Redlichkeit und Gottesfurcht, sie durch Anleitung in den praktischen Dingen des Tagwerks bewahren vor einem Schicksal als Bettler.» Er räusperte sich. «Bedenken Sie nur, was aus diesen Kindern geworden wäre, ohne die Anstrengungen unserer Anstalt, ohne die Wohltaten von Menschen wie Ihnen! Zu einer drückenden Last unseres Staates, womöglich zu einer Gefahr für unser Gemeinwohl würden sie sich entwickeln.»
    Jodok gähnte ungeniert.
    «Und so richten wir denn unsere größte Sorgfalt dahin, dieseunsere Zöglinge zum Dank gegen Gott, zum rechten Gebrauch des Glaubens wie auch zur Demut gegen ihre Gönner und Vorgesetzte aufzuerziehen. Gerade diesen ärmsten Kindern Gottes müssen wir die Saat des Glaubens einpflanzen, um sie zu stärken.» Er wandte sich den Knaben und Mädchen zu. «Und nun, meine lieben Kinder, erhebet euch und lasst uns beten für euer Seelenheil und das eurer Wohltäter. Denn euer Gebet ist dem Vater im Himmel wohl angesehen.»
    Aus den Kehlen von über zweihundert Buben und Mädchen hallte es über den Innenhof:
Der Herr segne und behüte uns, er lasse sein Angesicht über uns leuchten   …
Als sie nach weiteren Dankesgebeten, die zu Theres’ großem Erstaunen von der kleinen Pauline vorgebetet werden durften, zum Vaterunser übergingen, erhoben sich auch die Gäste und fielen mit ein.
    Theres hatte die ganze Zeit zu Urle hinübergestarrt. Während sämtlicher Gebete waren seine Lippen fest verschlossen geblieben. Nachdem sie noch alle miteinander
Großer Gott, wir loben dich
gesungen hatten, erhob sich Theres, um mit den anderen Mädchen beim

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