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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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weil Gott ihn aus den Qualen des Fegefeuers nicht entlassen wollte?
    Nach zwei, drei Tagen schien ihr, als habe man sie vergessen, hier unten in diesem feuchten Kellerloch, und fast war ihr das recht so. Vielleicht würde sie ja, wenn sie nicht mehr aufstand von ihrem Strohlager und nichts mehr aß und trank, auch einfach sterben können. Das war allemal besser, als zurückzukehren in den Alltag des Waisenhauses. Allein die Vorstellung, den Innenhof, diesen Ort der Verzweiflungstat, betreten zu müssen, ließ sie erzittern. Das Schulzimmer, in dem kein Urle mehr seine Faxen machen würde, der Speisesaal, der Garten, der Gang vor den Schlafsälen: Alles würde leer und tot sein ohne Urle. Und den Anblick seiner Peiniger, den Anblick von Jodok, Bartlome und Rosina, von Löblich und der Wagnerin, ja selbst von Oberinspektor Fritz, würde Theres erst recht nicht ertragen. Sie alle hatten Urle, nur weil er anders war, mit ihrer Boshaftigkeit in den Tod getrieben, und sogar in sich selbst spürte sie etwas wie Mitschuld, weil sie es nicht hatte verhindern können.
    Nicht ein einziges Mal in diesen Tagen und Nächten hatte Theres versucht, Trost und Beistand bei Gott zu suchen. Im Gegenteil: Je mehr sie Urles Selbstmord quälte, desto häufiger stieg ein ganz und gar sündhafter Gedanke in ihr auf: Es gab gar keinen Gott auf Erden! Dieser Herrgott hatte die Menschengeschaffen und sie irgendwann allein gelassen. Hatte sich in den hintersten Winkel seines Reiches zurückgezogen, weil er mit ihnen nichts mehr zu schaffen haben wollte, und sie, die Menschen, waren dazu verdammt, ohne ihren Hirten wie eine verlorene Schafherde durch die Welt zu irren. Vielleicht aber war Gott ja auch gestorben, und dann gab es auch kein Himmelreich, in dem man Frieden finden konnte.
    Irgendwann begann Theres vor sich hin zu murmeln: «Es gibt keinen Gott.» Zunächst leise und vorsichtig perlten diese Worte aus ihr heraus, und sie duckte sich in Erwartung eines gleißenden Blitzstrahls oder unsichtbaren Faustschlages, der sie zur Strafe für diese Blasphemie niederschmettern würde. Da nichts dergleichen geschah, wurde sie wagemutiger. Klar und deutlich sprach sie die ungeheure Erkenntnis aus: «Es gibt gar keinen Gott und keinen Herrn Jesus und keine Jungfrau Maria!» Lauthals warf sie die Worte gegen die nackten Wände und begann schließlich sogar, dabei mit ausgestreckten Armen herumzutanzen.
    Dann kam ihr ein neuer Gedanke. Wenn Gott Urle in seiner Verzweiflung nicht beigestanden hatte, ihn nicht bewahrt hatte vor diesem letzten grausamen Schritt – dann musste dies nicht bedeuten, dass Gott tot war. Vielleicht war dieser ihr Herrgott einfach nur ein böser Gott! Einer, der den armen Urle hernach auch noch zur Strafe ohne Erbarmen in der Hölle schmoren ließ!
    Überraschend leicht gingen ihr die Worte nun von den Lippen. «Gott ist böse!» Und wiederum geschah ihr nichts. «Gott ist böse! Gott ist böse!», wiederholte sie etliche Male. Fast tröstlich klangen diese Worte schließlich, und sie kauerte sich auf ihrem Strohlager zusammen, um die restliche Zeit in einer Art Dämmerschlaf zu verbringen.
     
    Sie erwachte von einer schnarrenden Stimme, wie sie nur dem Ökonomieverwalter Heintz gehören konnte.
    «Das ist sie, die Theres Ludwig. Mit Verlaub, werter Herr Rieke: Sie stinkt leider ein wenig, nach dieser langen Arreststrafe.» Der Verwalter beugte sich zu ihr hinab. «Jetzt steh endlich auf.»
    Theres blinzelte. Durch den Lichtschacht oben an der Wand erkannte sie, dass es helllichter Tag war. Neben Heintz stand ein wildfremder Mann von gut dreißig Jahren, schlank und aufrecht und sehr vornehm in seinem dunklen Gehrock mit weißem Hemd und weißer Halsbinde darunter.
    Aufmerksam betrachtete der Fremde sie jetzt durch seine runde Brille: «Was hast du getan, Theres, dass du hier seit sieben Tagen eingesperrt bist?»
    «Sieben Tage», murmelte sie nur verwundert.
    «Das Biest ist gegen den eigenen Lehrer gegangen und hat ihn Mörder geheißen», belferte Heintz. «Wie ein Raubtier ist sie auf ihn los! Das hätten Sie mal sehen sollen!»
    «Bitte, Herr Kollege – lassen Sie doch das Mädchen selbst antworten. Also, was ist? Sag es mir, Theres.»
    Theres hatte sich inzwischen mühsam erhoben. Ihre Beine schienen sie kaum tragen zu können. Verwirrt starrte sie den Mann an. Sein glattes, braunes Haar war seitwärts streng gescheitelt, doch das bartlose Gesicht mit den runden Bäckchen und dem leicht fliehenden Kinn wirkte

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