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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Auftragen zu helfen. Ihre Vorfreude auf das Festmahl war verflogen, denn sie machte sich Sorgen um Urle. Dass er nicht mitgebetet hatte, würde erneut Ärger geben.
    Als auch der letzte Gast mit Essen und Trinken versorgt war, durften sich die Kinder ihre Teller füllen. Und nicht nur das: Anlässlich der Feierlichkeiten war ihnen Nachschlag nach Belieben versprochen, dazu für jeden ein großer Krug guten, braunen Bieres. Theres stocherte in ihrem Teller herum, als Sophie sagte: «Hast du’s schon gehört? Es geht das Gerücht, dass wir einen neuen Anstaltsleiter bekommen.»
    Theres zuckte die Schultern. «Meinetwegen», entgegnete sie nur. Als ob das für sie, die Vagantenzöglinge, irgendwas ändern würde. Plötzlich stutzte sie. Urles Platz war leer, sein Essenhatte er nicht angerührt. Suchend blickte sie umher, konnte ihn aber nirgends entdecken.
    Auch eine Stunde später, als mit einem
Danket dem Herrn
die Mahlzeit beendet wurde und alle zu singen anhoben, blieb Urle verschwunden. Was, wenn er tatsächlich auf und davon war?
    Die ersten Gäste waren bereits aufgebrochen, da trat der Marder an Theres’ Tisch. Seine Augen wirkten glasig.
    «Wo ist dein Zwergenfreund?»
    «Ich weiß nicht, Herr Löblich.»
    «Ich warn dich, Theres. Wenn du mir was verschweigst, bist du dran!»
    In diesem Augenblick hörte sie hoch über sich lautes Flügelklatschen, dann sah sie drei Tauben aus der offenen Dachluke herausflattern. Dahinter zwängte sich eine menschliche Gestalt aus der Luke.
    «Urle!», schrie Theres.
    Die Menschen im Hof rissen ihre Köpfe herum und starrten nach oben zum Dach des Instituts. Was dort geschah, ließ alle vor Entsetzen verstummen. Geschmeidig wie eine Katze glitt Urle über die Dachziegel zur Traufe hinunter, straffte seinen kleinen Körper, breitete die Arme aus, als seien sie Flügel, und stieß sich ab.
    Theres hielt den Atem an. Unendlich lange schien Urle durch die Luft zu schweben, sein Bild verschmolz für einen kurzen Augenblick mit dem jenes Storchenvogels, der sie hierhergebracht hatte. Sie sah das Lächeln auf seinem Gesicht, ein Lächeln, das Theres galt, ihr allein. Endlich bin ich frei, schien es zu sagen, dann folgte ein dumpfer Schlag, als würde ein Sack Kartoffeln aufs Pflaster prallen.
    Niemand rührte sich.
    «Mörder!», brüllte Theres plötzlich, packte ihren Lehrerbeim Arm, schlug mit den Fäusten auf ihn ein, gegen seine Brust, schließlich mitten ins Gesicht, bis ihr jemand die Arme nach hinten riss – es war Urban, der Knecht – und sie mit sich zerrte. Während ihre Beine über das Pflaster schleiften, sah sie, wie eine der feinen Damen unterm Baldachin in Ohnmacht fiel, sah, wie alles hinüberstürzte zu dem freien Platz zwischen den Lindenbäumchen, hin zu diesem Bündel Mensch, das da lag. Das Geschrei und Gekreisch um sie herum schmerzte in ihren Ohren, jemand trat ihr auf den Fuß, ein Ellbogen prallte gegen ihre Schläfe.
    «Mörder! Mörder!», hörte sie nicht auf zu schreien, während Urban sie an den schmerzhaft nach hinten verdrehten Armen die Stufen zum Eingangstor hinaufschleifte. Weiter ging es durch die menschenleeren Gänge bis hinunter in den Keller vor die Arrestzelle. Dort verpasste der Knecht ihr rechts und links eine Maulschelle, stieß sie auf die Strohschütte und beeilte sich, die Tür zu verriegeln.
    «Mörder», wimmerte sie, ganz leise nur noch, bis die Silben in ein heiseres Schluchzen übergingen.

6
    Waisenhaus Weingarten, Herbst und Winter 1832
    Eine Stunde um die andere verbrachte Theres in der Arrestzelle, ganze Tage schließlich, in denen sie nur Urban zu Gesicht bekam, wenn er ihr Wasser und Brot brachte und den Aborteimer wechselte. Er sprach kein einziges Wort mit ihr und sie keines mit ihm.
    Anfangs kreisten immer dieselben Gedanken in ihrem Kopf. Warum nur war Urle nicht einfach weggelaufen, zurück zu den Gauklern, zu seiner Familie? Wie verzweifelt musste er gewesensein, dass er so etwas Schreckliches getan hatte! Immer wieder, wie unter dem Zwang einer höheren Macht, streckte Theres sich bäuchlings auf dem kalten Steinboden aus und stellte sich vor, wie es Urle empfunden haben mochte, so mit ausgebreiteten Armen durch die Luft zu fliegen und dann auf das harte Pflaster zu schlagen. Hatte er den Schmerz, als ihm alle Knochen barsten, noch empfunden? Und wenn ja, wie lange hatte er leiden müssen, bis der Tod ihn endlich gnädig zu sich nahm? Oder war der Tod gar nicht gnädig, hatte sein Leid im Tod erst richtig begonnen,

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