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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Stuttgart krachten durch den feuchtkühlen Morgennebel, dann schmetterte man zum zweiten Mal an diesem Morgen den Choral
Heil unserm König, Heil! ,
und der Festumzug setzte sich in Bewegung.
    Quer durch den Ort sollte es gehen, mit den Trommlern und Bläsern vorweg. Den Waisen- und Vagantenkindern allerdings blieb nur ein kurzer Blick vom Martinsberg hinunter auf die mit Blumen, Fähnchen und Girlanden geschmückten Gassen, dann mussten sie zurück hinter ihre Mauern, um beim Aufbau zu helfen: Für den Mittag nämlich sollte im Innenhof eine veritable Gartenwirtschaft eröffnet werden, mit Bier- und Weinausschank, Wurstbraterei und drei Garküchen unter freiem Himmel. Erwartet wurden hierzu nicht nur die Altdorfer Bürger und Bauern, sondern verschiedene Honoratioren aus Gemeinde und Oberamt. Für diesen einen Tag würden sie alle gemeinsam im Hof zu Mittag speisen – die Waisen wie die Vagantenkinder, die Pädagogen wie das Gesinde, die feinen Herrschaften wie die einfachen Taglöhner. Sogar Apfelkuchen mit Zimt und Zibeben sollte es hinterher geben!
    «Bestimmt bringen die hohen Herren heut wieder Geschenkle für uns!», freute sich Pauline. Sie und die anderen jüngeren Mädchen waren damit beschäftigt, aus Laub und Herbstblumen kleine Sträuße für den Tischschmuck zusammenzubinden.
    «Beim letzten Mal gab’s nur neue Bibeln.» Sophie schnaubte. «Ein hübsches Nastuch wär mir lieber gewesen.»
    «Bist du dumm, Sophie? Was ist schon ein eitles Nastüchlein gegen eine eigene, nigelnagelneue Bibel?»
    Sophie sah das Mädchen verächtlich an. «Du schwätzt daher wie der Pfaff in der Kirch! Oder, Theres?» Sie gab ihrer Freundin einen Stoß in die Rippen.
    «Was?» Theres hatte nicht zugehört. Ihre Gedanken waren noch ganz bei Urle, der ihr eben auf dem Kirchplatz ein Geschenk überreicht hatte.
    «Hier, für dich», hatte er gesagt und ihr ein zierlich geschnitztes Holzpferdchen in die Hand gedrückt, ähnlich dem ihres Bruders Hannes. «Damit dein andres Pferdchen nicht so allein ist.»
    «Wie wunderhübsch! Hast du das selber geschnitzt?»
    Urle nickte.
    «Eigentlich», seine Stimme wurde rau, «wollt ich’s dir erst zu Weihnachten schenken. Aber jetzt kriegst du’s halt zum Königsgeburtstag. Als Erinnerung an mich, wenn ich mal nicht mehr bin.»
    Theres sah ihn erschrocken an: «Was redst du da?»
    Er schwieg.
    «Ist das wegen dem, was der Löblich mal gesagt hat und der Medicus? Aber – du glaubst dieses Geschwätz doch nicht etwa? Du bist doch kerngesund!»
    Bevor Urle noch etwas hatte erwidern können, war der Hausknecht Urban zwischen sie getreten: «Seid ihr taub? Ichhab gesagt, in Zweierreihen aufstellen. Zurück mit euch ins Institut.»
    Inzwischen fragte sich Theres, ob ihr Freund womöglich vorhatte, aus der Anstalt zu entfliehen – und heute, wo hier alles drunter und drüber ging, wäre nicht die schlechteste Gelegenheit. Es musste Urle härter als jede Tracht Prügel getroffen haben, dass der Oberinspektor, in Absprache mit Lehrer Löblich, den Besuch seiner Familie abgelehnt hatte. Begründet hatte man diese Entscheidung mit Urles miserablen Semestralzensuren und den häufigen Arreststrafen in der kurzen Zeit seit seiner Ankunft.
    Ein Klaps gegen die Schulter riss Theres aus ihren Gedanken.
    «Das soll ein Tischschmuck sein?» Susanna, die Magd, betrachtete kopfschüttelnd, was Theres in den Händen hielt. «Das kannst unsern Kühen zum Fressen vorwerfen, so, wie das ausschaut. Und jetzt machet hin, Mädle, wir haben net mehr viel Zeit!»
    Theres murmelte eine Entschuldigung. Sie hatte den Bastfaden so häufig um das Sträußchen gewickelt, dass das Ganze tatsächlich eher einem Strohwisch ähnelte.
    Wenig später füllten sich die Bänke mit den auswärtigen Gästen. Die Honoratioren in Frack und Zylinder nahmen mit ihren Gattinnen an der Ehrentafel Platz, im Schutz eines Baldachins, die Tische der Waisen- und Vagantenkinder unmittelbar vor sich im Blickfeld. Die übrigen Tische und Bänke für das Personal und die Altdorfer Bürger hatte man rundum in Hufeisenform aufgestellt. An diesem Festtag sollten die Kinder einmal im Mittelpunkt stehen, hatte ihnen der Anstaltsleiter erklärt, und man erwarte daher von ihnen ein tadelloses Betragen.
    Nachdem jeder seinen Platz gefunden hatte, durften sichauch die Kinder setzen. Theres begann zu frösteln in ihrem dünnen Sonntagsgewand. Der Nebel hatte sich zwar verzogen, aber die Sonne vermochte es nicht, durch die dichte, milchigweiße

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