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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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milde.
    «Ich weiß nicht mehr», stotterte sie.
    «Was ist das für eine dumme Antwort», fuhr Heintz dazwischen. «Wirst du unserem neuen Herrn Oberinspektor wohl sagen, was du getan hast?»
    Dumpf erinnerte sie sich, dass Sophie ihr von dem Gerücht über einen neuen Anstaltsleiter erzählt hatte, und sie begriff, wer hier vor ihr stand.
    «Es war alles so schrecklich», antwortete sie mit brüchiger Stimme. «Der Urle war doch mein Freund.»
    Fragend sah der Fremde den Verwalter an. Der nickte mürrisch.
    «Der Junge, der sich vom Dach gestürzt hat, war also dein Freund.»
    «Ja.»
    «Und du hast alles mit angesehen?»
    «Ja, Herr Oberinspektor.»
    Der Mann seufzte. «Das muss schlimm für dich gewesen sein. Weißt du denn noch», fragte er nach einer kurzen Pause weiter, «dass du deinen Lehrer, den Herrn Löblich, angegriffen hast? Und als Mörder beschimpft hast?»
    Theres schwieg und blickte zu Boden.
    «Sehen Sie, Herr Rieke? Ich hab’s doch gesagt. Genauso verstockt wie dieser zwergwüchsige Krüppel!»
    «Ich muss doch sehr bitten, Herr Kollege. Ein bisschen mehr Respekt vor den Toten. – Nun sieh mich an, Theres! Warum bist du so außer dir gewesen?»
    «Weil – weil alle den Urle immer nur gehänselt haben», brach es aus ihr hervor. «Der kann doch gar nix dafür, dass er so komisch aussieht – ausgesehen hat.» Sie schluckte. «Dabei war er der klügste von uns allen. Und der Herr Löblich hat ihn immer nur geschlagen.»
    «Und warum, glaubst du, hat dein Freund sich das Leben genommen?»
    «Weil er so unglücklich geworden ist, wie es kein Mensch aushalten kann.»
    Der neue Oberinspektor betrachtete sie schweigend. Dann wandte er sich an Heintz. «Glauben Sie nicht, dass dieses Kind viel eher seelsorgerischen Trostes bedurft hätte statt tagelanger Arreststrafe?»
    «Aber – sie ist gewalttätig geworden! Das muss gebührend abgestraft werden.»
    «Um jeden Preis?» Der Mann namens Rieke schüttelte den Kopf. «Gerade bei Heranwachsenden, deren Charakter noch im Reifen ist, muss das rechte Maß abgewägt werden. Milde bewirkt da oft mehr als Härte.»
    «Sie kennen diese Kinder noch nicht. Roh und wild wie Tiere sind die, wenn man sie nicht im Zaum hält.» Der Spitzbart des Verwalters zitterte. «Bei unseren Zöglingen wäre Nachsicht ein Werkzeug des Teufels! Nur mit scharfer Correction, mit Strenge und Härte lassen sich künftige Übeltaten verhindern.»
    «Da bin ich leider gar nicht Ihrer Ansicht. Ganz im Gegenteil: Einzig Liebe und Vertrauen bilden die Basis für Gehorsam. Ich fürchte, lieber Herr Heintz, ich werde einiges umkrempeln müssen in diesem Institut. Und vielleicht wird das manch einem hier nicht besonders schmecken.»
    Der neue Anstaltsleiter drehte sich zu Urban um, der mit seinem schweren Schlüsselbund in der Hand im Türrahmen lehnte.
    «Bringen Sie das Mädchen hinaus. Es soll ein Bad nehmen und frische Kleidung anziehen. Danach soll es eine warme Mahlzeit in der Küche bekommen.» Er wandte sich wieder Theres zu. «Wenn du dann gestärkt bist, kommst du zu mir in mein Amtslokal. Ich möchte mich noch ein wenig mit dir unterhalten. Du musst wissen, dass dies heute mein erster Tag hier in Weingarten ist, und ich denke, es ist nicht verkehrt, gleich einmal eines von euch Kindern kennenzulernen.» Er hielt kurz inne, bevor er sich an den Ökonomieverwalter wandte. «Ach ja, Kollege Heintz: Für heute Nachmittag ordne ich eine Trauerfeier für den zu Tode gekommenen Jungen an.»
     
    Als Theres an diesem Abend neben Sophie im Bett lag, konnte sie kaum fassen, was alles geschehen war. Nach dem Bad und einer kräftigen Mahlzeit hatte sie eine ganze Stunde, bis zum Mittagsläuten, im Amtslokal des neuen Hausgeistlichen und Oberinspektors Gustav Adolf Cornaro Rieke verbracht. Sie hatte ihm gegenüber an dem schweren Eichenholzschreibtisch Platz nehmen dürfen und ihm vielerlei Einzelheiten über sich und Urle berichten müssen. Ganz allein und ungestört waren sie gewesen, und ihre anfängliche Scheu vor dem fremden Herrn war bald verflogen. Er hatte sogar tröstend den Arm um sie gelegt, als sie wegen Urle wieder zu weinen begonnen hatte. Von kurzen Zwischenfragen abgesehen, hatte Rieke selbst nur selten das Wort ergriffen, dafür sich hin und wieder Notizen gemacht.
    Sie hatte ihm auch von ihrem Heimatdorf erzählt und von ihrem Bruder Hannes. Dass er sie im Sommer, noch vor den Erntearbeiten, hatte besuchen kommen wollen, und jetzt sei es doch bereits Herbst. «Er hat dich

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