Die Bettelprophetin
Schnitzereien verziert, war verschlossen, die einfache Brettertür geradeaus stand offen und gab den Blick frei aufein Getümmel von Menschen. Theres drängte sich hinein und fragte sich zwischen Kisten, Körben und Fässern nach dieser Lene durch, bis sie vor einem langgestreckten gemauerten Herd mit mehreren Feuerstellen stand. Sie konnte es kaum fassen: Die Küche war fast so groß wie die im Vagantenkinderinstitut!
Eine dicke Frau mittleren Alters kam auf sie zu.
«Bist du die aus Ringschnait?», schnaufte sie.
Theres nickte.
«Ich weis dich nachher ein, jetzt stehst nur im Weg. Warte.» Sie drückte ihr ein Körbchen und ein Messer in die Hand. «Geh solang in den Garten und hol Kräuter. Hast überhaupt schon was gegessen?»
«Nein.»
«Da, nimm den Wecken. Später gibt’s was Warmes.»
Sie schob Theres durch eine schmale Tür hinaus in den Gemüsegarten. Nachdem sie das Brot hinuntergeschlungen hatte, füllte sie ihr Körbchen und wurde bald darauf wieder hereingerufen. Die Mannsbilder waren verschwunden, die Kisten und Körbe ordentlich verräumt. Etliche Frauen standen schwatzend zwischen Herd und den beiden langgestreckten Tischen, auf denen sich Berge von Gemüse häuften. In den Kesseln dampfte bereits das Kochwasser.
«So, jetzt kann’s losgehen.» Die Dicke wischte sich die Hand an der Schürze ab und reichte sie Theres. «Ich bin die Lene, die Köchin hier auf dem Hof. Das da sind unsre Mägde Marie und Cathrin. Die andern fragst am besten selber, die sind von den Höfen rundum. Setz dich an den Tisch zum Gemüseputzen.»
Während Lene mit zwei Helferinnen am Herd stand und die nächsten Stunden mit den schweren Pfannen und Töpfen hantierte, es über dem Feuer zischte und brodelte und bald die verführerischsten Düfte aufzogen, hockte Theres mit den übrigen Mägden am Tisch und schnitt und putzte Unmengenvon Gemüse. Zwischendurch musste sie nach draußen, frisches Wasser oder Brennholz holen, dann ging es weiter, bis gegen Mittag an jede eine Schale sämiger, fetter Suppe mit Wurststücken verteilt wurde. Dazu gab’s kräftiges Braunbier, so viel man wollte. Theres begann Gefallen an ihrem Ausflug auf den Einödhof zu finden. Hier redete jede mit jeder, es wurde bei der Arbeit gelacht und gesungen, und ihre ärgste Befürchtung, nämlich dem Hausherrn oder auch seiner blasierten Tochter zu begegnen, hatte sich erst gar nicht erfüllt. Sie hätte niemals gedacht, wie angenehm einem die Arbeit von der Hand ging in einer solch fröhlichen Frauenrunde.
Als Theres kurz nach Sonnenuntergang den Pfarrhof erreichte, fühlte sie sich wohlig müde und zufrieden. Sie hatte gut gegessen, gut gearbeitet in netter Gesellschaft, und am Ende hatte die Köchin ihr zehn Kreuzer in die Hand gezählt. Das war mehr, als sie je erwartet hätte – an Lohn und an schönen Stunden.
11
Im Pfarrhaus bei Biberach, Winter 1838/Frühjahr 1839
Kälte und Finsternis des Winters trafen Theres mit ganzer Wucht. Unter der Woche sah sie keinen einzigen Sonnenstrahl, und selbst an Sonn- und Feiertagen kam sie kaum nach draußen, da es viel zu kalt war, um auf der Bank zu sitzen. So blieb ihr nur der Kirchgang oder ihre Runde rings um das Dorf zwischen Mittagessen und Christenlehre. Aber wenn sie es früher aus tiefstem Herzen genossen hatte, an der frischen Luft zu sein, befiel sie dabei jetzt eine fast schon schmerzhafte Einsamkeit. Nach wie vor nämlich hatte sie keine Freunde im Dorf, und das traf sie inzwischen weit härter als die freudlose Stille im Pfarrhaus.Dabei hatte sie schon lange erkannt, dass das kühle und abweisende Wesen des Pfarrers nichts mit Dünkel ihr gegenüber zu tun hatte. Vielmehr war es eine Art Schwermut, die tief in ihm drinnen steckte und die jetzt, in der dunklen Jahreszeit, nur noch stärker zum Vorschein kam. Immer häufiger hörte sie ihn leise seufzen, ohne jeglichen äußeren Anlass.
Theres dachte noch oft an den Tag auf dem Einödhof zurück. An diesem einen Tag hatte sie mehr gelacht als in den ganzen Monaten im Pfarrhof. Auch Sophie war zu beneiden. Die hatte gewiss schon ein halbes Dutzend Freundinnen. Wie sehr Theres sie doch vermisste. Hier sprach keiner der jungen Leute mit ihr. Man grüßte sie nur, wenn es denn sein musste, und kehrte ihr ansonsten den Rücken zu.
Bis auf eine einzige Ausnahme. Da gab es einen Burschen, einen schlaksigen Jungen mit struppigem Blondhaar und hellblauen Augen, der ebenso wenig dazuzugehören schien wie sie. Er grüßte sie nicht nur
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