Die Bettelprophetin
ihre paar Pfennige eine Suppe bestellen – aber sie kam nicht vom Fleck.
«Um Himmels willen, Sie sind ja ganz grün im Gesicht! Warten Sie, stützen Sie sich auf meinen Arm.»
Inzwischen hatten sich einige Neugierige um sie geschart,und der, der Hans hieß, rief: «So helft mir doch, das Fräulein bricht gleich zusammen.» Dann fragte er sie: «Wo wohnen Sie denn?»
«Nirgends», flüsterte Theres.
«Sie muss ins Spital», mischte sich ein Herr in Zylinder ein. «Lass nur, Junge, ich bringe sie hinüber.»
«Nein … nicht … Spital», stöhnte Theres, doch der Herr achtete nicht darauf.
Das kurze Stück Wegs die Bachgasse hinunter schien nicht enden zu wollen. Theres konnte sich kaum auf den Beinen halten, als der Spitalsknecht öffnete und sie mit Hilfe des vornehmen Herrn aus ihrem nassen Kapuzenumhang schälte.
Dann spürte sie, wie sie hochgehoben wurde und wenig später in einem Bett zum Liegen kam. Jemand rief nach dem Arzt, stattdessen erschien über ihr, verschwommen und verzerrt, das Gesicht des Spitalvaters.
«Da schlägt’s doch dreizehn – wen haben wir denn da? Wirst jetzt etwa unser Dauergast, Theres Ludwig?»
Theres wollte etwas erwidern, doch ihre Zähne schlugen nur unablässig gegeneinander. Erschöpft wandte sie den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Sie schämte sich zutiefst – vor dem Spitalvater, dem vornehmen Herrn, vor sich selbst. Sie würde noch so enden wie ihre Mutter.
Den ganzen Winter verbrachte sie im Ravensburger Heilig-Geist-Spital. Dieses Mal war sie allerdings wesentlich länger in die Krankenstube verbannt, denn der Amtschirurg schien sich Vorwürfe zu machen, dass er die Schwere ihrer Kopfverletzung bei ihrem letzten Aufenthalt nicht erkannt hatte.
Im Spital gingen in diesen Wochen einige Veränderungen vor sich. Fenster, Türen und Dächer wurden instand gesetzt, die Wände neu verputzt und gestrichen. Von früh bis späthämmerte und klopfte es irgendwo, wurden mit lautem Getöse Bretter abgeladen oder Hölzer zersägt, und an manchen Tagen waren Theres’ Kopfschmerzen schier unerträglich. Doch auch diese Zeit ging vorüber, und zum Jahreswechsel durfte sie die Krankenstube verlassen.
In der Arbeitsstube der Armenbeschäftigungsanstalt hatte man inzwischen moderne Jacquard-Webstühle aufgestellt, mächtige Holzungetüme, in denen über lange Lochstreifen das Muster der Baumwollware wie von Zauberhand dirigiert wurde. Täglich zehn Stunden verbrachte Theres an diesen Maschinen, samstags dann ging es hinaus ins Freie zur Gartenarbeit oder zum Gassenkehren. Dabei musste sie sich vom Spitalvater immer wieder aufs Neue anhören, wie wenig Arbeitslust sie zeige.
«Faul und ungeschickt bist du», pflegte er zu schimpfen. «Starrst die halbe Zeit vor dich hin, als würde dir der Nachtgrabb erscheinen.»
Dabei lag es daran, dass sie sich auch nach ihrer Genesung oftmals erschöpft und fiebrig fühlte. Aber um nichts in der Welt hätte sie in die Krankenstube zurückkehren wollen, wo es nach Kot, Urin und Erbrochenem stank, wo die Bresthaften und Verwundeten Tag und Nacht stöhnten, jammerten oder vor Schmerzen schrien. In einem nur hatte der Spitalvater recht: Während der eintönigen Arbeit am Webstuhl suchten sie tatsächlich immer häufiger Gesichter heim. Mal sah sie den Bruder vor sich oder Urle, mal den freundlichen Pfarrer Seibold oder die widerwärtige Schönfärberin, immer häufiger dann auch die Mutter oder die kleinen, nackten Teufelchen vom Wandgemälde der Spitalskapelle, die die armen Sünderseelen beim Weltgericht ins ewige Höllenfeuer zerrten. Sie alle sprachen sogar mit ihr, nur ihre Mutter und die Teufelchen blieben stumm.
In der Zeit erfuhr sie auch, dass Wagnermeister Anton Senn seine Wagen- und Chaisenfabrik hatte schließen müssen. Zu hoch waren seine Schulden gewesen, zu heftig der Widerstand der hiesigen Handwerker, die ihm Steine in den Weg gelegt hatten, wo sie nur konnten. Am Neujahrstag beschloss Theres, Clara aufzusuchen, um nun doch alles über ihre Mutter herauszufinden. Auch wenn sie sich dagegen wehrte: Der Gedanke, dass die beiden sich gekannt hatten, hatte sie in den letzten Wochen umgetrieben. Doch die alte Magd war zwei Tage zuvor am gallichten Faulfieber gestorben. Fast schien es Theres, als wäre ihre Mutter mit ihr aus dem Leben geschieden.
Als das Frühjahr endlich kam, stand ihre Entscheidung fest: Sie würde der Stadt, die ihr kein Glück gebracht hatte, den Rücken kehren. Ein wenig bedauerte sie ihren
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