Die Bettelprophetin
gegen die Ferse getreten, woraufhin die jetzt ärgerlich herumfuhr.Sie war noch jung, mit dickem, weißblondem Haar unter der Haube.
«Rosina?»
«Ach herrje – die Zwergenbraut vom Urle!»
«Sprich nicht so!» Theres wurde augenblicklich wütend.
«’tschuldigung, war net so gemeint. Ehrlich! Arbeitest hier in Ravensburg?»
Theres nickte. «Und du?»
«Immer noch auf meinem Einödhof. Du, ich muss weiter, meine Herrschaft wartet. Kommst später auch zum Festplatz? Da spielt eine Kapelle zum Tanz. Und wir könnten ein bissle schwätzen.»
«Mal sehen. Vielleicht.» Theres war bass erstaunt über Rosinas Freundlichkeit. Fast schien es, als würde sie sich freuen über das Wiedersehen.
«Ach, übrigens, Theres: Rat mal, wen ich vorher getroffen hab?»
Ihr Herz klopfte schneller. «Die Sophie?»
«Nein, die doch net, die ist doch in Ulm. Den Jodok. Wie ihn grad zwei Polizeidiener in Handschellen abgeführt hab’n. Den hab’n sie erwischt, wie er einem die Geldbörse stibitzt hat, und zwar ausgerechnet dem Stadtschultheißen. Wie kreuzblöd von ihm!»
«In Ulm? Die Sophie ist in Ulm?»
«Wusstest du das net? Ich dacht, ihr seid solche Busenfreundinnen. Als dann, bis später. Ich muss los.»
Ulm! Das war ja elendig weit weg von hier! Warum nur war Sophie in eine so große Stadt gegangen? Dass sich Jodok als Taschendieb herumtrieb, überraschte sie weit weniger.
Der Festzug war inzwischen vor der evangelischen Pfarrkirche angelangt, deren Portal weitgeöffnet stand. Unschlüssig blieb Theres stehen, während die Sänger ins Kircheninnereströmten. Bald darauf ertönte ein vielstimmiger, wunderbarer Gesang.
«Was ist das für eine Musik?», fragte sie die ältere Frau neben sich, die ein Blatt in den Händen hielt.
«Von einem, der Mozart heißt.» Sie blickte auf ihr Papier. «
O Schutzgeist alles Schönen
. Geh nur hinein, aber sei leis.»
Doch am Portal hielt ein Festordner mit blauer Armbinde sie zurück. «Deine Eintrittskarte», verlangte er.
«Eintrittskarte?»
«Für Kirche und Festgelände braucht es eine Eintrittskarte. 15 Kreuzer für Nichtmitglieder.»
Theres schüttelte den Kopf. «Ich hab kein Geld.»
«Dann musst draußen bleiben. So, bitt schön, weitergehen die andern, hier entlang.»
Enttäuscht setzte sie sich in den Schatten des Kornhauses auf eine Bank. So würde sie also auch nicht zum Tanz auf den Festplatz können, wenn das ein solches Vermögen kostete. Und damit auch nicht erfahren, was Sophie im fernen Ulm trieb. Sie zog den halben Kreuzerwecken aus der Schürzentasche, den Clara ihr zum Abschied geschenkt hatte, kaute in winzigen Bissen darauf herum. Dabei lauschte sie den Gesängen, die auch hier draußen erstaunlich gut zu hören waren.
Gegen Mittag ging das Konzert in der Kirche zu Ende. Gäste wie Sänger verteilten sich in den umliegenden Wirtschaften oder holten sich an den Ständen am Straßenrand eine Kleinigkeit zu essen. Theres knurrte der Magen, als ihr die Düfte einer Wurstbraterei in die Nase zogen. Sie war nahe dran, den Nächstbesten anzubetteln, doch dann verließ sie der Mut. Mit großen Augen starrte sie die Menschen vor der Wurstbude an, beobachtete, wie sie sich ein Stück knuspriger Wurst nach dem anderen hineinschoben und ihre Münder kauten und schmatzten. Da plötzlich fiel einem jungen Burschen eine halbe Roteaus der Hand. Blitzschnell sprang Theres zu ihm hinüber, bückte sich – und musste zusehen, wie ein kleiner, struppiger Hund ihr die Beute wegschnappte.
«Mistköter!», schimpfte sie und richtete sich auf.
«Du musst ja mächtig Hunger haben», hörte sie eine Männerstimme hinter sich.
Theres wandte sich um. Vor ihr stand ein junger Pfarrer, dessen hellblaue Augen sie besorgt musterten. Sie erkannte ihn sofort: Es war Patriz Seibold, jener freundliche Gast damals in Ringschnait.
Voller Scham blickte sie zu Boden. Was mochte der Mann jetzt von ihr denken? Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sich in Richtung der Verkaufstheke beugte und sich ihr dann erneut zuwandte.
«Hier. Für dich.»
In der Hand hielt er eine dampfende Bratwurst zwischen zwei Brotscheiben.
«Das kann ich nicht annehmen», murmelte Theres.
«Aber ja.» Patriz Seibold lachte. «Der Mensch lebt zwar nicht vom Brot allein, aber ohne geht es auch nicht.»
«Dann – haben Sie vielen Dank. Und vergelt’s Gott.»
«Vergelt’s Gott und lass es dir schmecken.» Sein schmales, bartloses Gesicht wurde wieder ernst. «Sag, sind wir uns nicht schon mal
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