Die Bettelprophetin
Entschluss, denn das Leben in Ravensburg hatte ihr eigentlich gefallen. Aber es hatte nicht sein sollen: Die Unruhe in ihr, die sie so oft vom Schlafen abhielt oder ihr die Arbeit schwermachte, war hier nur noch stärker geworden. Gab es überhaupt einen Ort auf der Welt, wohin sie gehörte? Das Einzige, was sie sich jetzt noch wünschte, war, hin und wieder ihren Bruder sehen zu dürfen. Vielleicht war er ja ihre Heimat.
17
Oberschwaben, Frühjahr bis Herbst 1843
Der Bauer in seiner buntbestickten Weste mit der goldenen Uhrkette streckte die Hand aus.
«Dein letztes Zeugnis?»
«Hab schon länger keins mehr gekriegt. Hab halt immer hie und da gearbeitet, als Magd, oder hab gestrickt und genäht.» Theres schürzte trotzig die Lippen.
Sie ahnte, was jetzt kommen würde. Allzu oft hatte sie es in diesem vergangenen Jahr erlebt.
«Ja meinst etwa, ich kauf die Katze im Sack? Ich such ein Stubenmädchen und keine Landstreicherin.»
Theres zuckte die Schultern und wandte sich ab. So war das eben, wenn man bei dem einen Dienstherrn nie länger blieb als von Lichtmess bis Martini, beim nächsten von Martini bis Lichtmess. Oder noch viel kürzer.
«He, so warte doch! Eine Stallmagd könnte ich brauchen, im Saustall und für die Gänse.»
Eine Saumagd! So weit war es also schon. Ein Gefühl tiefer Verbitterung stieg in ihr auf. Hatte Anstaltsleiter Rieke bei ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus nicht betont, ihr stünde eine vielversprechende Zukunft bevor? Aber wo war diese Zukunft? Hatte sie nicht alles versucht, was in ihren Kräften stand? Und jetzt wollte man sie nicht mal mehr als Stubenmädchen.
Nur – hatte sie eine Wahl? Sie war entschlossen, in der Riedlinger Gegend zu bleiben, zumindest bis zum Sommer. Von hier war es nicht weit die Alb hinauf, zu ihrem Bruder, den sie unbedingt wiedersehen wollte.
Plötzlich spürte sie, wie sich eine kleine Hand in ihre schob.
«Kannst du seilhüpfen?»
Ein etwa achtjähriges Mädchen in Kittelschürze, mit rötlichen Locken und riesigen dunkelgrünen Augen, sah zu ihr auf. In der freien Hand umklammerte es ein Hanfseil.
«Ich denke schon. Aber das ist lang her.»
«Auch auf einem Bein?»
Erstaunt blickte Theres das Mädchen an.
«Ich müsste es versuchen.»
«Dann zeig mal.»
Jetzt erst entdeckte Theres, dass das barfüßige Mädchen einenverkrüppelten linken Fuß hatte. Genau wie Hannes! Der Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich.
«Sephe! Komm sofort her!», befahl der Bauer streng. Das Mädchen ließ Theres’ Hand los und humpelte zu dem Mann, der offenbar ihr Vater war.
Theres holte tief Luft. «Wann kann ich anfangen?»
«Jetzt gleich. Aber schlafen musst im Stall, auf dem Strohboden über den Kühen. Wir haben kein Bett mehr frei.»
Als sie an diesem ihrem ersten Arbeitstag im Schweinestall fertig war und die Gänse in ihren Verschlag getrieben hatte, wurde es bereits dunkel. Sie ging hinüber zur Viehtränke im Hof und schrubbte sich Gesicht und Hände, ohne den beißenden Gestank loszuwerden. Mit einem unterdrückten Seufzer richtete sie sich auf und sah sich um. Das Gehöft der Zinstags, eingebettet in eine lichte Hügellandschaft, war vielleicht nicht ganz so groß wie das des Einödbauern Wohlgschafft. Doch auf den ersten Blick wirkte es wesentlich freundlicher. Türen und Holzbalken des Haupthauses waren hübsch bemalt, vor den Fenstern hingen Kästen mit Frühlingsblumen, der gepflasterte Teil des Hofes sah aus wie frisch gekehrt.
«Was brauchst du so lang?» Im Türrahmen erschien eine junge Magd. «Dein Essen wird kalt.»
Sie folgte dem Mädchen in die Küche und setzte sich zu den andern an den klobigen Tisch, woraufhin deren Unterhaltung augenblicklich verstummte.
«Ich heiß Theres», sagte sie, nur um überhaupt etwas zu sagen.
«Das wissen wir längst», entgegnete einer der beiden Männer, und das war es auch schon. Für den Rest der Mahlzeit richtete niemand mehr das Wort an sie. Stumm löffelte Theres die Erdäpfel aus ihrer Mehlsuppe. Auch das kannte sie inzwischen allzu gut, dieses Abwarten, dieses Misstrauen ihr gegenüber. Esdauerte halt seine Zeit, bis man hier auf dem Land die Neuen im Kreis aufnahm, und manchmal erlebte sie es nie, weil sie bereits wieder ihren Abschied eingereicht hatte.
Den Gesprächsfetzen der anderen konnte sie entnehmen, wer hier welche Aufgabe innehatte. Da waren die Köchin und das Stubenmädchen, zwei Knechte, ein Milchmädchen, sie selbst als Saumagd und eine weitere Viehmagd. Bis auf
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