Die Bettelprophetin
konnte sie nichts Schlechtes sagen. Die anderen, als eine eingeschworene Gemeinschaft, zu der auch die älteren Kinder des Bauern gehörten, ließen sie links liegen. Anscheinend war es ein Kommen und Gehen mit den Saumägden hier auf dem Hof. Außerdem hatte Theres gelernt, dass sie auf der Stufenleiter des Gesindes als Schweine- und Gänsemagd auf unterster Sprosse stand.
Aber sie hatte Sephe. Zwischen ihr und dem aufgeweckten Mädchen entspann sich bald eine enge Freundschaft, was von Bauer Zinstag anfangs mit Unwillen gesehen wurde, bis er auf den Gedanken kam, Theres zusätzlich als Kindsmagd in die Pflicht zu nehmen. Von Sephe erfuhr sie auch, warum man die Bäuerin nie zu Gesicht bekam: Sie war bettlägerig seit der verunglückten Geburt ihres Jüngsten.
«Der Alois ist jetzt im Himmel droben», hatte das Mädchen erklärt. «Da geht’s ihm gut. Aber ich find’s trotzdem blöd, weil ich gern jemanden zum Spielen gehabt hätt.»
Gleich zu Beginn des Sommers hatte Theres ihren Dienstherrn um zwei, drei freie Tage gebeten, weil sie ihren Bruder besuchen wolle. Dafür würde sie auch auf ihre freien Sonntagnachmittage verzichten. Und die Sephe würde sie auch gerne mitnehmen.
«Bist net ganz bache? Die mit ihrem Klumpfuß kommt ja net mal den Berg da drüben rauf.»
Zu ihrem Erstaunen hatte er ihr schließlich doch die freien Tage gewährt, allerdings erst für die Zeit nach der Kornernte. Seither lebte Theres nur noch auf den Augenblick hin, wo sie ihren Bruder endlich wiedersehen würde, nach bald eineinhalb Jahren.
Voriges Jahr nämlich, nachdem sie Ende März Ravensburgverlassen hatte, war sie zuallererst auf die Alb hinauf. Den ganzen weiten Weg war sie zu Fuß marschiert, hatte die Nächte in Scheunen und Ställen übernachtet, sich von Wasser und Brot ernährt. Als sie dann endlich in ihrem Dorf ankam und Hannes in die Arme schließen durfte, war sie entsetzt gewesen über dessen Zustand: Klapperdürr war er, noch dünner als sie selbst. Nur sehr langsam vermochte er zu gehen und musste sich dabei auf einen Stock stützen. «Das ist nur, weil ich so schwer krank war bis vor ein paar Wochen», hatte er sie zu beruhigen versucht. Sie aber hatte nur daran denken können, dass ihr Bruder, der in einem Alter war, wo man als Bursche zum Tanz ausging, dort ein Mädel umschwärmte, um es anschließend nach Hause zu begleiten und vielleicht gar im Schutz der Dunkelheit zu küssen und zu umarmen – dass ihr Hannes zeitlebens zum Krüppel verdammt war!
Kurz vor der Dinkelernte schrammte sich Theres bös Schienbein und Arm auf. Es hatte an diesem Abend einen heftigen Gewitterguss gegeben, und sie war nass bis auf die Haut geworden. Als sie schlafen gehen wollte, löschte sie wie immer ihr Licht am Fuße der Leiter, da ihr bei Prügelstrafe verboten war, die Lampe mit hoch ins Stroh zu nehmen. Im Stockdunklen suchte sie sich den Weg nach oben, Sprosse für Sprosse, da geschah es: Fast schon oben, rutschten ihre nassen Fußsohlen ab, und sie schlitterte die Leiter hinunter.
Im ersten Augenblick spürte sie gar nichts, dann ein heftiges Brennen am rechten Schienbein. Mit zusammengebissenen Zähnen tastete sie nach der Lampe und zündete sie an. Die Haut über dem Schienbein war über die Länge einer Hand aufgerissen und begann an einigen Stellen zu bluten. Auch aus ihrer rechten Armbeuge quoll Blut.
Vorsichtig tupfte sie Arm und Bein mit einem Heubüschelsauber, dann kletterte sie wieder hinauf. Inzwischen brannte die Wunde am Bein wie Feuer, doch sie wagte nicht, den Bauern an seinem Feierabend zu stören. Das hasste Zinstag mehr als alles andere, und schließlich wollte Theres nicht ihre Wanderung auf die Alb, die für nächste Woche verabredet war, aufs Spiel setzen. Außerdem war er ohnehin höchst gereizt, weil infolge des nasskalten Sommers die Ernte mehr als dürftig ausfallen würde.
So lag sie die halbe Nacht reglos auf dem Rücken im Stroh, Arm und Bein so ausgestreckt, dass die harten Halme nicht an der Wunde kratzten. Kaum war sie endlich eingeschlafen, weckte sie bereits der Hahnenschrei. Im fahlen Morgenlicht betrachtete sie ihre Verletzungen: So schlimm sah es gar nicht aus! Mit viel Mühe schaffte sie es die Leiter hinunter und humpelte über den Hof hinüber ins Wohnhaus. Dort erwartete sie, wie immer in der Früh, die kleine Sephe auf der Türschwelle, um mit ihr gemeinsam zum Morgenessen zu gehen.
«Jetzt läufst grad so wie ich.»
«Ich bin von der Leiter abgerutscht. Aber das geht
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